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NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20
Autoren: Olaf G. Hilscher
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Weite verbunden. Sein Geist
ist nun geöffnet. Er ist geöffnet und breitet sich aus. Endlose Horizonte. Jeder
Impuls seiner Neuronen rast durch das Gedankennetz und stimuliert die Neuronen
anderer, die wiederum ihn stimulieren.
    Vierzig
Minuten später halten meine Großeltern vor der offenen Türe inne. Sie verstehen
die Weite nicht. Sie verstehen nicht, dass die Spucke ihm aus dem Mundwinkel
rinnt, weil es fast unmöglich ist, die leisen Rufe des eigenen Körpers zu hören
wenn der Geist von Reizen überflutet wird. Sie sehen nur sein erschlafftes
Gesicht, die glasigen Augen, die nach oben starren. Sie begreifen nur, dass er
sehr weit weg ist. An einem Ort, wohin sie ihm nicht folgen können und den sie
für böse halten.
    „Das
kann man doch nicht zulassen“, murmeln sie, „den Geist so verkommen zu lassen.
Seine Eltern sollten ihm nicht erlauben, so viel Zeit damit zu verbringen.“
    „Weißt
du noch, wie es bei uns damals war? Wie wir uns alle um die gleiche
Spielkonsole geschart haben? Alle waren im selben Zimmer. Jeder sah auf
denselben Bildschirm. Das hat uns zusammengeschweißt. Das war noch eine gesunde
Form der Freizeitgestaltung.“
    Sie
schütteln die Köpfe. „Es ist eine Schande. Die jungen Leute wissen nicht mehr,
wie man Kontakt zu anderen aufbaut.“
    Ich
will mir das nicht weiter anhören. Ich stehe auf und schlage ihnen die Tür vor
der Nase zu. Ich bin mir darüber im Klaren, dass sie meine Handlung als
ungerechtfertigt empfinden. Aber es ist mir egal. Sie kennen die Bezeichnung
Temporaler Autismus, aber sie haben keine Ahnung, was das bedeutet. Tief in
ihrem Inneren sind sie davon überzeugt, dass ich einfach nur schlechte Manieren
habe.
    Durch
die Türe hindurch höre ich sie darüber reden, wie sehr sich die heutige Jugend
von ihnen unterscheidet. Ich wundere mich über ihre Frustration. Ich kann nicht
verstehen, warum sie der Meinung sind, die jüngeren Generationen müssten still
halten. Warum sie glauben, Kinder müssten in dieser turbulenten Welt die
gleichen Spiele spielen wie ihre Großeltern.
    Ich
beobachte die blitzenden Lichter an den Schläfen meines Bruders, ein zufälliges
Muster, das mich an die Geburt und den Tod von Sonnen erinnert. In diesem
Moment benutzt er einen größeren Teil seines Nervengewebes als sich vor hundert
Jahren irgendjemand hätte vorstellen können. Er steht mit mehr Menschen in
Kontakt, als sein Vater in seinem ganzen Leben kennen gelernt hat.
    Wie
war es wohl, als der Homo habilis die ersten Geräusche von sich gab, die
sich später zu Sprache entwickelten? Hielt man die Kinder, die jene seltsamen
Laute von sich gaben, auch für fehlerhaft, für asozial und für unfähig, mit
ihren Altersgenossen zu interagieren? Wie viele genetische Varianten standen
an der Grenze zur Sprachentwicklung, bis sie eine genügende Akzeptanz
erreichte, um die Entwicklung voran zu bringen?
    Meine
Großeltern sind der Ansicht, die Weite würde den Geist meines Bruders
verzerren. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Sein Geist ist darauf
abgestimmt, sich mit der Weite zu verbinden. So wie meiner auf den Schwindel
erregenden Strom von Sekunden und Jahrhunderten ausgerichtet ist.
     
     
    Die
Nacht vermischt sich mit dem Morgen, und während dieses Vorgangs schlafe ich
irgendwann ein. Als ich aufwache, taucht die Sonne das Fenster im Zimmer meines
Bruders in gleißendes Licht. Wenn ich ganz nah ans Fenster gehe, kann ich
gerade noch die Fliegenfalle mit der wundervollen Blüte und dem verkümmerten Stiel
sehen. Ob sie den Tag überleben wird? Es ist zu früh, um das zu sagen.
    Draußen
begrüßen sich die Nachbarn. Die älteren nicken sich höflich zu oder schütteln
die Hände. Die Jugendlichen schreien und gestikulieren in der ihnen eigenen
Art. Ich frage mich, welche Begrüßungsformen des heutigen Morgens sich im
Vokabular von morgen festsetzen werden.
    Die
Evolution sozialer Strukturen folgt ihren eigenen Gesetzen. Unaufhörlich
entstehen Variationen, treten in Konkurrenz zueinander und verschwinden wieder
im Tumult. In der Kathedrale am Ende der Straße werden eines Tages Menschen
zusammenkommen, die eine ganz andere Sprache sprechen und die ganz andere
Gepflogenheiten haben als wir.
    Alles
ändert sich. Alles verändert sich andauernd.  Ich empfinde den Prozess wie
Wellen, die unaufhörlich an die Küste branden: Scheuern, strudeln, spritzen,
scheuern … Chaos, unausweichlich in seiner Beständigkeit.
    Es
sollte selbstverständlich sein, dass auf dem Weg unserer
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