Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20
Autoren: Olaf G. Hilscher
Vom Netzwerk:
Wirbeln durch Muster, die genauso
komplex wie unbeständig sind.
    Das
Leben ist nicht das einzige, das sich weiterentwickelt. Auch mein Tanzen
verändert sich von Tag zu Tag, manchmal von einer Sekunde auf die nächste. Jede
Sequenz wird wiederholt oder ausgelöscht, je nachdem, wie sehr sie mich
zufrieden stellt. Auf einer höheren Fraktalebene sterben oder verändern sich
die verschiedenen Tanzformen ebenso. Man nennt Ballett eine zeitlose Kunst,
dabei hat das, was heute in den Theatern dargeboten wird, nicht mehr viel mit
dem Ballett zu tun, das in Italien und Frankreich entwickelt wurde.
    Die
Variante die ich tanze ist eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Eine
neoklassische Variante, an die sich niemand erinnert, für die niemand eine
Eintrittskarte kaufen würde und die nur sehr wenige Tänzer je nachahmen. Sie
ist einsam, wunderschön und dem Untergang geweiht. Ich mag sie, denn ihr
Schicksal ist besiegelt. Die Zeit hat keine Macht mehr über sie.
    Wenn
die Kraft in meinen Muskeln nachlässt, werde ich die Illusion von Kontrolle
aufgeben und wieder zu einem kleinen Staubkorn im rasenden Chaos des
Universums, einem Betrachter meiner eigenen Existenz. Aber im Moment nehme ich
nichts wahr außer meiner eigenen Bewegung und der Energie, die durch meine
Adern strömt. Gäbe es keine physikalischen Einschränkungen, dann würde ich für
immer weiter tanzen.
     
     
    Es
ist mein Bruder, der mich findet. Er hat mich oft hergebracht und wartet auf
mich. Elektronische Implantate blinken an seinen Schläfen, während ich tanze.
Ich mag meinen Bruder. Ich fühle mich wohl in seiner Gegenwart, denn er
erwartet von mir nichts anderes, als die zu sein, die ich bin.
    Als
ich mich hingesetzt habe, um meine Tanzschuhe auszuziehen, sind auch meine
Eltern eingetroffen. Sie sind nicht so ruhig und entspannt wie mein Bruder. Sie
schwitzen in der Nachtluft und sprechen in angestrengten Sätzen, die sich alle
überlagern. Wenn sie doch nur abwarten würden, bis ich die richtigen Worte
gefunden habe, um ihr gehetztes Getöse zu beruhigen. Aber sie können nicht in
meinem Zeitrahmen sprechen. Ihre Unterhaltungen folgen einem Sekundentakt,
manchmal einem Minutentakt. Für mich klingt es wie das Summen eines Moskitos.
Ich brauche Tage, manchmal sogar Wochen, um meine Gedanken zu ordnen und die
richtige Antwort zu finden.
    Das
Gesicht meiner Mutter ist ganz nah an meinem, und sie scheint verzweifelt zu
sein. Ich versuche, sie mit der Antwort zu beruhigen, die ich mir aufgehoben
habe.
    „Keine
neuen Schuhe“, sage ich. „Ich könnte in neuen Schuhen nie so gut tanzen.“
    Ich
merke, dass dies nicht die Worte sind, die sie erwartet hatte, aber sie
schimpft mich nicht mehr aus, weil ich ohne Begleitung das Haus verlassen habe.
    Auch
mein Vater ist verärgert. Vielleicht hat er auch Angst. Seine Stimme ist viel
zu laut und meine Finger krallen sich in die Papiertüte.
    „Herr
im Himmel, Hanna, weißt du, wie lange wir nach dir gesucht haben? Gina, wir
müssen bald etwas unternehmen. Sie hätte genauso gut im Rotlichtviertel landen
oder von einem Auto angefahren werden können, oder …“
    „Ich
lasse mich zu nichts drängen!“ entgegnet meine Mutter ärgerlich. „Dr. Renoit
beginnt nächste Woche mit einer neuen Therapierunde. Wir sollten …“
    „Ich
weiß nicht, warum du so starrsinnig bist. Wir reden hier nicht von Medikamenten
oder einer Operation. Es ist eine ganz einfache, nichtinvasive Methode.“
    „Eine
Methode, die noch nicht richtig getestet wurde! Das ABA Programm hat doch
Resultate erzielt. Ich werde diesen Fortschritt nicht aufs Spiel setzen, nur
weil …“
    Ich
höre das Zzzap des Schulterlasers meines Vaters. Ich habe zuvor keinen Moskito
summen gehört. Also hat er auf Staub geschossen. Seit mein Vater den Laser
gekauft hat, haben sich die Moskitos verändert, aber der Staub ist seit
Millionen von Jahren der gleiche.
    Kurz
darauf höre ich meine Mutter fluchen und auf ihr Shirt schlagen. Der Moskito
fliegt auf seiner Flucht nah an meinem Ohr vorbei. Ich führe seit Jahren eine Statistik.
Die altmodische Moskitoabwehr meiner Mutter ist auch nicht erfolgreicher als
Vaters High-Tech-Waffe.
                 
     
    Während
meine Eltern noch über die Zukunft debattieren, bringt mein Bruder mich nach
Hause. Ich sitze in seinem Zimmer, und er legt sich aufs Bett und aktiviert die
Implantate in seinen Schläfen. Stecknadelkopfgroße Lichtpunkte wandern über
seine Stirn. Sie flackern, denn er hat sich mit der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher