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NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20
Autoren: Olaf G. Hilscher
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könnte ich mich danach ausstrecken und
die Wolkenlandschaft berühren, vielleicht sogar meinen eigenen turbulenten Pfad
verlassen und in die sich verändernden Muster eintauchen, die sich schon bald
Indigoblau verfärben werden.
    Aber
da ist das Fenster, und ich fühle mich gefangen.
    Hinter
mir sitzen meine Eltern und ein Spezialist des neurologischen
Forschungszentrums auf Klappstühlen, die sie aus der Küche hereingetragen haben
und sprechen  leise über meine Zukunft. Sie wissen nicht, dass ich ihnen
zuhöre. Sie gehen davon aus, dass ich ihre Anwesenheit nicht bemerke, nur weil
ich mich dazu entschieden habe, nicht darauf zu reagieren.
    „Gibt
es Nebenwirkungen?“ fragt mein Vater. In der Schwüle des Abends höre ich das
leise Zzzap seines Schulterlasers, der Moskitos ins Visier nimmt. Das Gerät
funktioniert nicht mehr so gut wie vor zwei Jahren, denn die Moskitos sind
schneller geworden.
    Mein
Vater vertraut auf die Technologie, weshalb er auch das Forschungszentrum
kontaktiert hat. Er will mich reparieren. Er ist davon überzeugt, dass es
möglich ist.
    „Es
gibt keine Nebenwirkungen im herkömmlichen Sinne“, antwortet der Spezialist.
Ich mag ihn, obwohl mir seine Anwesenheit unangenehm ist, denn er drückt sich
sehr präzise aus.
    “Wir
sprechen hier von direkter Synapsenveredelung, nicht von Medikamenten. Der
Prozess ähnelt dem Ausrichten eines frischen Triebes, um die Wuchsrichtung des
Baumes zu beeinflussen. Wir verstärken wichtige Verästelungen und erlauben dem
Hirn, sich auf natürliche Weise weiterzuentwickeln. Junge Neuronen sind sehr
leicht formbar.“
    „Und
Sie haben diese Prozedur schön häufiger angewandt?“ Ohne mich umzusehen weiß
ich, dass meine Mutter die Stirn runzelt.
    Meine
Mutter hält nicht viel von Technologie. Die letzten zehn Jahre hat sie damit
verbracht, mich mit sanften Methoden zu einem angepassteren Sozialverhalten zu
motivieren. Sie liebt mich zwar, aber sie versteht mich nicht. Sie glaubt, ich
müsste grinsend und lachend mit anderen Jugendlichen am Strand entlang rennen,
um glücklich zu sein.
    „Die
Methode ist noch sehr neu, aber unsere erste Klientin war eine junge Frau, in
etwa so alt wie Ihre Tochter. Sie konnte im Anschluss ganz wunderbar integriert
werden. Als Schülerin war sie nie besonders gut, aber sie sprach mehr und
konnte dem Klassengeschehen besser folgen.“
    „Was
passiert mit Hannas … Talenten?“ fragt meine Mutter. Damit meint sie das
Tanzen. Und dass ich mir Fakten und Zahlen ohne große Anstrengung merken kann.
„Würde sie diese verlieren?“
    Die
Stimme des Spezialisten wankt nicht. Mir gefällt, wie er die Tatsachen
darlegt, ohne sie herunter zu spielen. „Es ist ein Kompromiss, Mrs. Didier. Das
Gehirn kann nicht für alles gleichzeitig optimiert werden. Ohne Behandlung
entwickeln sich einige Kinder, die in einer ähnlichen Situation sind wie Hanna,
zu ganz außergewöhnlichen Menschen. Sie werden berühmt, verändern die Welt und
lernen, ihre Fähigkeiten im Rahmen unserer Gesellschaft anzuwenden. Aber dieses
Glück haben die wenigsten. Die meisten lernen nie, wie man Freunde gewinnt, können
keinen Beruf ausüben oder außerhalb einer speziellen Einrichtung leben.“
    „Und
… mit der Behandlung?“
    „Ich
kann Ihnen nichts versprechen. Aber die Chancen  stehen gut, dass Hanna ein
normales Leben führen können wird.“
    Ich
habe meine Handfläche ans Fenster gepresst. Das Glas fühlt sich kühl und glatt
an. Es scheint starr zu sein, aber auf molekularer Ebene bewegt es sich. Seine
Atome gleiten langsam aneinander vorbei, sehr langsam. Doch auch bei diesem
Tempo ist eine Veränderung unvermeidlich. Ich mag Glas – und Stein – weil es
sich nicht so schnell verändert. Bis diese Veränderung auch ohne Mikroskop
sichtbar wird, werde ich schon lange tot sein, ebenso wie meine Verwandten und
all ihre Nachkommen.
    Ich
spüre die Hände meiner Mutter auf den Schultern. Sie ist hinter mich getreten
und nun dreht sie mich um, so dass ich ihr in die Augen sehen oder mich
losreißen muss. Ich sehe ihr in die Augen, weil ich sie liebe und weil ich im
Moment entspannt genug bin, um es zu ertragen. Sie spricht langsam und mit
sanfter Stimme.
    „Würde
dir das gefallen, Hanna? Möchtest du so sein wie die anderen Jugendlichen?“
    Mir
scheint weder ja noch nein eine adäquate Antwort zu sein, also schweige ich.
Worte sind so flüchtig, so unbestimmt. Sie gleiten durch die Lücken zwischen
meinen Gedanken und gehen
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