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NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20
Autoren: Olaf G. Hilscher
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an den Händen gefesselte
Tänzerinnen. Jemand hat viel Geld ausgegeben, und dafür nicht mehr bekommen als
billige Bordellästhetik.
    Gerade
langsam genug, damit Justine mich überholen kann, setze ich mich in Bewegung.
Tatsächlich drängt sie sich mit dem Strom der Neuankömmlinge an mir vorbei und
macht es mir so sehr leicht, ihr auf den Fersen zu bleiben. Zügig und
zielstrebig schiebt sie sich durch die Menge. Sie steuert einen bestimmten
Punkt an, zieht dabei eine Maske aus ihrer Tasche, die Augen, Stirn und Nase
verbirgt. Viele verstecken ihre Gesichter. Vor allem die Konsumenten illegaler
Substanzen.
    Zwei
Minuten später verhandelt Justin mit einer zusammengekauerten Gestalt hinter
einer Art Arbeitstisch. Das Gesicht des Mannes wird ebenfalls von einer Maske
verdeckt. Anders als bei den übrigen Besuchern ist seine mit einer
Sauerstoffflasche verbunden. Eine muskulöse kantige Frau sitzt, Justin und ihm
den Rücken zugewandt, vor einem holografischen Display. Die Online-Version der
Financial Times schwebt vor ihrem Gesicht. Ab und zu blickt sie über ihre
Schulter, und einmal berührt sie in einer sanften Geste, die nicht zum
Dolchtattoo auf ihrem Arm passt, die Schulter des Mannes mit der
Sauerstoffmaske.
    Der
hat mittlerweile Justines Bestellung angenommen und bereitet live vor ihren
Augen das Menü zu. Der Synthetisierer  auf dem Tisch sieht irgendwie aus wie
das verkleinerte  Modell einer Ölraffinerie. In den mit Farben und Zahlen
markierten Ladesockeln stecken mehr als hundert kleine Ampullen. Keine der
darin enthaltenen Substanzen wäre für sich genommen illegal. Das gilt auch
nicht für das Produkt, das nach einigen Minuten im Reaktionsbehälter entstehen
wird. Den wird der kleine Mann oder seine Assistentin später einfach zerbrechen
und die Toilette herunterspülen. Nichts, was er mit sich führt, würde als
Begründung für eine Verhaftung ausreichen. Er bleibt sauber, solange er keinem
Undercovercop die falsche Ampulle verkauft.
    Ein
paar Minuten verbringt Justine auf der Tanzfläche, mehr stehend als tanzend. 
Allein.
    Fünfzehn
Minuten später holt sie ihre Bestellung ab, zahlt einen erheblichen Betrag in
bar und bahnt sich ihren Weg durch die Menge. Die Avancen zweier Männer
ignoriert sie mit einem energischen Kopfschütteln. Offensichtlich ist sie nicht
mehr in Stimmung für Konversation. Es wird Zeit für mich, aktiv zu werden.
Falls sie ihren gerade gemischten Cocktail vorher einwirft, wäre das sehr
kontraproduktiv für meine Tätigkeit. Justine und ich haben heute eine
Verabredung. Sie ahnt nur nichts davon.
    Sie
durchquert einen kurzen Korridor und verlässt ihn durch einen türlosen Ausgang.
Der Drum’n’Bass-Orkan verebbt hier draußen, und die Luft ist  kühl an diesem
Abend.   Deswegen zieht es auch sonst niemanden her.
    Ohne
die Deckung der Menge lasse ich mich etwas zurückfallen, bleibe im Schatten
unter dem Vordach. Justine geht weiter zielstrebig auf den Rand des Daches zu.
Es gibt keine Absperrungen. Keine Grenze zwischen ihr und dem Abgrund. Ihre
Schritte werden sogar schneller. Einen Augenblick bin ich mir sicher, dass sie
einfach weiter gehen wird. Über die Kante, hinunter in den Abgrund. Vierzehn
Stockwerke abwärts auf den Beton.
    Ich
bin mir sicher, sie zieht es in Erwägung.
    Justine
und ich, wir wissen es beide: Es ist gut, dass ihr Leben heute Nacht enden
wird.
    Aber
nicht so. Nicht von ihrer Hand.
    Zu
meiner Linken entdecke ich einen weiteren Durchgang, beleuchtet durch eine
einzelne Glühbirne, die an einem Stromkabel von der Decke hängt. Dahinter führt
eine Stahltreppe in die untere Etage.
    Eine
bessere Gelegenheit wird es nicht geben. Also setze ich mich in Bewegung.
Zügig, aber möglichst lautlos. Ich bin keine drei Meter mehr von ihr entfernt,
als sie mich bemerkt, mir einen kurzen unbeeindruckten Blick über die Schulter
zuwirft und erklärt: „Vergiss es, ich bin nicht in der Stimmung dafür, okay?“
Dabei baumeln ihre Beine über der Dachkante. Vierzehn Stockwerke gähnende Leere
unter ihren High Heels. Sie hält es trotzdem nicht für nötig, mich anzusehen.
    „Ich
verstehe“, erwidere ich.  „Aber deswegen bin ich nicht hier.“
    Als
sich die Nadel in ihre Schulter bohrt, stößt sie sich instinktiv ab,
gleichzeitig reiße ich sie mit der anderen Hand unter ihrem Arm weg von der
Dachkante. Schon jetzt hat sie keine Kontrolle mehr über ihre Zunge, bringt nur
ein undefinierbares Lallen hervor und das nicht mal laut.
    Ich
höre Bewegungen
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