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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Pilger und Fremde
    1968
    I m April 1968 schrieb Maze Jansen Whitman einen Brief an ihre Freundin Mary Elizabeth Cox. Sie hatte schon viele Briefe an Mary Elizabeth geschrieben und immer geendet mit »Alles Liebe, ich wünschte, du kämest zu uns zurück. Maze«. Doch bei diesem Brief nahm Maze an, es wäre der letzte, den sie an Mary Elizabeth schicken würde, mit der sie befreundet war, seit die beiden sich in ihrem ersten Jahr auf dem College 1961 ein Zimmer geteilt hatten.
    »Es ist schwer, mit dir in Verbindung zu bleiben, M. E.«, begann Maze, »vor allem, wenn du nicht auf meine Briefe antwortest.« Und sie fuhr fort:
    »Ich bin froh, dass du mir wenigstens Bescheid gegeben hast, wo du bist. Inzwischen bilde ich mir wohl nicht mehr ein, dass du jemals zurück nach Kentucky kommst.
    Aber vermisst du uns denn nicht? Kein bisschen? Wenn schon nicht uns, wenn schon nicht mich, dann vielleicht zumindest das grüne und schöne und gottverlassene Land, wie Dr. Wendt es immer nannte? Erinnerst du dich noch an ihn, M. E.? Und erinnerst du dich an unsere gemeinsamen Wanderungen samstags, wie wir mit vollem Karacho Fat Man’s Misery runterrannten und auf den Felsen ausrutschten und so lachen mussten, dass wir kaum noch Luft bekamen?
    Aber jetzt sind alle fort, nicht nur du. Schwester Georgia tot und begraben, Sarabeth und Phil in Kanada. Und Daniel auch. Er ist tot, M. E., im Krieg gefallen. Jetzt sind nur noch Harris und ich und unsere Kinder übrig. Selbst meine Mama ist zurück nach Torchlight gezogen, zusammen mit Onkel Shade. Harris und ich haben Zwillingssöhne bekommen, vor einem Monat, und ich muss ständig weinen. Marthie ist jetzt vier und schon zu ernsthaft, ganz sicher meinetwegen. Ich bin müde und weinerlich und habe immerzu Angst, nicht weil ich zwei winzige Kinder habe, sondern weil es Jungen sind. Wegen dem, was unser großartiges Land mit seinen jungen Männern macht. Es sind Harris’ und meine Kinder, und sie sind kein Kanonenfutter, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Ich bin zu jung für dieses ganze Bedauern. Ich bedaure, dass wir Daniel nicht ausgeredet haben, zur Armee zu gehen, als wir erfuhren, dass er sich gemeldet hatte. Dass Schwester Georgia unsere Zwillinge nicht mehr erlebt hat. Und dass du dich immer weiter von mir entfernt und mir nie gesagt hast, warum eigentlich. Wieder und wieder habe ich mich gefragt, was ich getan haben könnte. Ob es das war, was damals passiert ist, als ich bei euch zu Hause in Richmond übernachtet habe. Oder als ich bei dir in Chicago war. Ich dachte, unsere Freundschaft hätte Bestand, M. E., gleich was sich uns in den Weg stellen würde. Aber vielleicht hast du die ganze Zeit versucht, mir mitzuteilen, dass ich mich irre. Eines sollst du aber doch noch wissen, und das sind die Namen unserer Zwillinge, Pilgrim und Stranger (meistens nennen wir ihn Ranger). Sie sind nach dir und mir benannt, nach meiner Erinnerung an unsere erste Zeit in Berea, nach dem, was wir empfanden, wenn wir auf die grünen Hügel wanderten und aus vollem Halse die alten Kirchenlieder sangen. Ich hoffe, du bist glücklich in New York.
    Unterschrieben war der Brief schlicht »Maze«.

Schwester
    1872–1908
    G eorginea Fenley Ward wurde im März 1872 in Lexington, Kentucky, geboren – mitten in einem unvorhergesehenen Frühlingsblizzard, als das dunkelgrüne Grasland von Kentucky weiß bedeckt war, ganz untypisch, und der Arzt nicht schnell genug kommen konnte.
    Ihr Vater Davis Ward hatte darauf bestanden, dass ihre Mutter Rose die letzten Monate der Schwangerschaft bei ihrer Schwester Lenora verbrachte, etwas außerhalb von Lexington. Doch er hatte Rose nicht dorthin begleitet, sondern vorgehabt, erst zur Geburt ihres ersten Kindes einzutreffen, da er so wenig Zeit wie möglich im Hause seines Schwagers zu verbringen wünschte, dessen Lebensgewohnheiten (das Trinken von Whiskey und, früher, das Halten von Sklaven, um nur zwei zu nennen) ihm zuwider waren.
    Und so traf, inmitten des unbarmherzigen Sturms und der eisigen Verwehungen, weder der Arzt noch Georgineas Vater rechtzeitig zu ihrer Geburt oder dem Tod ihrer Mutter ein paar Minuten später ein. Georgineas Tante Lenora behauptete zeitlebens beharrlich, Rose habe ihre neugeborene Tochter kurz angeblickt und schwach gelächelt, ehe sie an jenem Märzmorgen ein letztes Mal die Augen schloss, eine Geschichte, die nicht stimmen konnte, wie das Mädchen Georginea und später die Frau Georgia wusste. Sie hatte ganz bestimmt
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