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Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)

Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)

Titel: Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Autoren: Bettina Münster
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    Emily Watson ließ ihre Hand routiniert über die grüne Wandtafel gleiten, wobei der Kreidestummel in ihren Fingern die soeben von der Klasse zusammengefassten Gedankengänge sichtbar machte, die nach und nach in Emilys klarer, elegant geschwungener Handschrift die Tafel füllten.
    „Miss Watson, soll ich Ihnen neue Kreide besorgen? Sie schreiben schon fast auf dem Fingernagel!“
    Die junge Lehrerin drehte sich verwundert zu Steve Turner um, einem Schüler im Abschlussjahr, der in ihrem Englischkurs in der ersten Reihe saß und die meiste Zeit dadurch hervorstach, dass er durch streberhaftes Verhalten zu glänzen versuchte, was jedoch im besten Falle abstoßend wirkte. Seine Hornbrille saß wie immer einen Tick schief, sein kariertes Hemd war verwaschen und schmuddelig. Den Eindruck, leicht ungepflegt zu sein, hatte er zur Kunstform erhoben und beinahe schon einen Stil daraus entwickelt. Emily Watson bezweifelte jedoch stark, dass er damit bei irgendwem Eindruck schinden konnte. Jetzt rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her und brannte geradezu darauf, ins zu Sekretariat laufen und ihr neue Kreide besorgen zu dürfen. Bevor sie dazu kam, ihn zu bitten, still zu sitzen, rief Mark Hamlish aus der letzten Reihe dem jungen Streber laut eine Frage zu, die die gesamte Klasse zum Grölen brachte.
    „Hey Turner, bist du eigentlich in Miss Watson oder in Miss Hetty verknallt? “
    Miss Hetty war die hiesige Schulsekretärin, ein hübsches junges Mädchen, das sich quasi ununterbrochen von Annäherungsversuchen der Schüler zu distanzieren versuchte.
    Steve Turner lief puterrot an, stellte das Herumrutschen auf seinem Stuhl augenblicklich ein und sah verschämt zu Boden. Dass er seiner Lehrerin nun nicht mehr in die Augen schauen konnte verriet ihr deutlich, dass Mark mit der ersten Vermutung voll ins Schwarze getroffen hatte. Als Steve nun beinahe unter dem Tisch versank, fühlte sie sich genötigt, einzugreifen und die Aufmerksamkeit wieder auf den Unterricht zu lenken. Er war nicht der erste, und mit Sicherheit auch nicht der letzte Schüler, der sich in sie verliebt hatte. Doch Emily Watson hütete sich, dem irgendeine Bedeutung zukommen zu lassen, was wohl auch daran lag, dass sie sich selbst zu uninteressant fand, um diesen Schwärmereien tatsächlich Glauben zu schenken.
    „Steve, ich danke dir, aber ich glaube, die Kreide wird noch gut bis zum Ende der Stunde reichen. Zur Nächsten bringe ich dann aus dem Lehrerzimmer neue mit. Aber du kannst gerne den nächsten Abschnitt im Buch lesen. Dort hat Lucy eben aufgehört.“ Sie legte ihren schlanken Zeigefinger auf die Stelle in seinem Buch, zog ihn jedoch sofort wieder zurück, als Steve nickte und zu lesen begann.
    Am Ende der Stunde packte Emily Watson im allgemeinen Trubel von verrückenden Stühlen, zu Boden fallenden Büchern und quatschenden, lachenden Jugendlichen wie gewohnt zügig ihre Tasche und schloss hinter dem letzten Schüler, der den Raum verließ, die Türe ab.
    Da der Englischunterricht ihre letzte Stunde für den Tag gewesen war, beschloss die junge Frau, nach Hause zu fahren und ihre Unterlagen zu ordnen. Sie hatte schon ein wenig vorgearbeitet, die Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag stand bereits, und so konnte sie sich in aller Ruhe ihrer nebenberuflichen Tätigkeit zuwenden: dem Schreiben von Romanen. Sie hatte in den vergangenen vier Jahren bereits drei Kriminalromane veröffentlicht, die sich um die verbrecherische Seite von New York drehten, der Stadt, in der sie seit sechs Jahren lebte.
    Mit einundzwanzig Jahren war sie in diese Metropole gekommen, um alle Altlasten in ihrer Heimat England hinter sich zu lassen - d as zerrüttete Verhältnis zu ihrer Mutter, von der sie seitdem außer drei Weihnachtskarten in den letzten Jahren nichts mehr gesehen oder gehört hatte, und Freundschaften, die für immer in die Brüche gegangen waren, weil ihr zu viele Fragen gestellt wurden, die zu beantworten sie nicht in der Lage gewesen war.
    So war es schon immer gewesen: Emily war irgendwie anders, ihre Familie war anders als die der anderen Kinder in ihrer Klasse. Der Unterschied zu ihnen bestand vor allem darin, dass Emily kaum Familie hatte. Alle Verwandten waren früh gestorben, und dann blieben plötzlich nur noch sie und ihre Mutter übrig, als auch ihr Vater eines plötzlichen und unerwarteten Todes verstarb. Dass es Selbstmord gewesen war, weigerte Emily sich bis heute zu akzep tieren. Fragen ihrer Mitschüler konnte sie
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