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NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20
Autoren: Olaf G. Hilscher
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Spiegelbild begegnet, zögert
sie plötzlich, stiert sich an, als würde sie ihr Gesicht zum ersten Mal als ihr
eigenes erkennen. Wie bei einer ersten Begegnung mit dem eigenen Ich.
    Ein
unbewusster Reflex, irgendein Winkel ihres Bewusstseins sucht instinktiv nach
sich selbst, greift nach einer Erkenntnis, versucht Lücken zu füllen.
Vergeblich.
    Die
meisten von ihnen tun das. Es ist ein Verhaltensmuster, das ich immer wieder
beobachte. Auch die Fixierung auf das Äußere. Perfektes Styling, perfektes
Make-up, teure Kleidung, chirurgische Korrekturen, manchmal ein halbes Dutzend
in wenigen Monaten. Der fast pathologische Versuch, das eigene Selbst durch
Äußerlichkeiten zu definieren. Der hohe Preis dafür, zu einer leeren Hülle
geworden zu sein. Denn innen ist nichts mehr übrig.
    Justines
Probe habe ich von dem Röhrchen, das sie sich in die Nase steckt, um ihre
Schleimhäute mit weißem Pulver zu bestäuben. Wenige Epithelien haben gereicht.
Ich habe den Test mit dem tragbaren Scanner in meinem Hotelzimmer durchgeführt,
und er hat sie eindeutig identifiziert.
    Sie
ist die Richtige.
    Mitleid?
Ob ich Mitleid für sie empfinde? Nein, ich glaube, ich verspüre nie Mitleid mit
ihnen.
    Ich
tue nur, was zu tun ist.
     
     
    Die
Gäste werden in Gruppen von etwa vierzig Personen mit einem Lastaufzug nach
oben geschickt, der offensichtlich nachträglich installiert worden ist. Ich
habe fast zwei Stunden unten in der Schlange vor dem Gebäude verbracht. Keine
fünf Meter hinter Justine, die nicht ein einziges Mal in meine Richtung
geschaut hat. Ihr Flirt mit einem arabisch aussehenden Mann hat nur wenige
Minuten gedauert, und endete mit dem Auftauchen zweier weiterer Frauen, die
sich durch Austausch intensiver Zungenküsse mit ihm als seine Partnerinnen zu
erkennen gegeben haben. Sichtlich gereizt hat Justine das Gespräch beendet und
lieber auf den nachfolgenden Aufzug gewartet. Der trägt uns gerade herauf zum
obersten Stockwerk der alten Klinik. Für wenige Sekunden wird der Koffer in
meiner Hand schwerer. Sein Inhalt würde meine Mitfahrer sehr überraschen.
    Die
Liftkabine selbst besteht aus glänzendem Metall und Glas, offensichtlich
fabrikneu, geflutet mit unaufdringlichen Clubsounds aus unsichtbaren
Lautsprechern, laut genug,  um die leisen Gespräche der Gäste gerade eben zu
übertönen. Durch transparente Wände kann man ins Gebäude hinein und heraus
schauen.  Die Etagen des Gebäudes sind ausnahmslos im Rohzustand. Glaslose
Fenster gähnen wie leere Augenhöhlen. Auf dem Boden haben sich Teiche aus
schwarzem Regenwasser gebildet, in denen sich die Liftkabine spiegelt. Es gibt
nicht mal Treppen zwischen den Etagen. Ein Bauprojekt, dem auf halber Strecke
das Geld ausgegangen ist. Eins von vielen.
    Dieser
Club ist nicht permanent. Wahrscheinlich wird er morgen zum nächsten Gebäude
wandern, denn das hier ist eine inoffizielle Party. Und inoffiziell meint:
Keine Kameras.
    In
Justines Wohnung hätte ich es nicht tun können. Zu viele Sicherheitssysteme, zu
viele Objektive.
    Justine
lehnt direkt vor der nach außen gewandten Wand des Lifts, die Handflächen auf
der Glasfläche. Ihr Blick ruht auf der Stadt – oder auf ihrem Spiegelbild. Mich
selbst erkenne ich schräg hinter ihr, achte darauf, nicht zu lange ihre
Reflektion im Glas zu betrachten. Eine ungewöhnlich große Frau mit den breiten
hohen Wangenknochen einer Asiatin zu meiner Linken mustert mich. Als ich sie
direkt ansehe, wendet sie sich verlegen ab. Ich muss meine Einschätzung
korrigieren. Ihr Gesicht … etwas stimmt nicht damit. Die Nase zu breit, das
Kinn zu energisch. Ein Ladyboy, gut zwei Meter groß. Einen Augenblick später
versucht er es erneut. Seine viel zu grell geschminkten Züge verzerren sich zum
Imitat eines unsicheren Lächelns. Falls er auf eine Erwiderung hofft, muss ich
ihn enttäuschen.  Stattdessen wende ich mich um, als der Fahrstuhl zum
Stillstand kommt und die Scheibe hinter mir zur Seite gleitet.
    Die
massive Woge aus Drum’n’Bass-Sounds brandet über uns hinweg. Stimmen höre ich
keine, nehme nur sich bewegende Münder wahr, aus denen kein Laut zu mir dringt.
Meine Augen brauchen eine Weile, um sich ans Halbdunkel zu adaptieren, das von
blauen und grünen Lichtklingen durchschnitten wird. Gigantische Zungen benetzen
wulstige Lippen über den Köpfen der Gäste. Projektoren werfen ein Kaleidoskop
weiblicher Münder an die Kuppel über uns. Auf schweren OP-Tischen, die an
Stahlseilen von der Decke hängen, winden sich
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