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NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20
Autoren: Olaf G. Hilscher
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vergessen.
Vergessen, was ihn schon zu lange gequält hat.
    Es
ist verrückt. Über Jahrzehnte hinweg haben wir die Technologie entwickelt, um
Informationen zu bewahren, und dann plötzlich erkannt, dass wir das alles nur
getan haben, um unser eigenes Gedächtnis endlich löschen zu können.
    „Ich
erinnere mich“, flüstert Kathlyn. „Ich erinnere mich wieder an alles.“ Ihre
Arme sind um die Knie geschlungen. Ihr Körper zittert in embryonaler Haltung 
„Ich erinnere mich an das Bett, an die Schläuche in ihrem kleinen Körper. An
ihr Gesicht. Daran, wie sie riecht. So fremd. Und wie kalt sie ist. Und wie sie
immer bleicher und kälter wird. So lang, bis sie nur noch aus Eis besteht. Sie
ist einfach so …verblasst … sie hat sich aufgelöst.“  Ich scanne ihren
Herzschlag, den Puls, den Blutdruck. Alles im Normbereich für diese Situation.
„Ich glaube, ich habe in den letzten Monaten von ihr geträumt“, flüstert sie.
    „Nein,
das ist nicht möglich.“ Ich schüttele langsam den Kopf. „Auch nicht im Schlaf.
Sie haben sich nicht an sie erinnert. Sie haben sich nur an den Schmerz
erinnert.“
    Kathlyn
hat den Tod ihrer kleinen Tochter nicht verkraftet und die Flucht ergriffen.
Andere fliehen vor einer Schuld, sie vor dem Schmerz.
    Sie
starrt in das weiße Licht, ihre Pupillen schrumpfen zu Stecknadelgröße. „Warum
haben Sie mir das angetan?“
    Ich
hebe die Schultern. „Es ist besser, sich seinen Dämonen zu stellen.“
    „Warum
haben Sie mir das angetan?“
    „Man
sagt, nach einer Rekonstruktion hätte das ursprüngliche Trauma an Intensität
verloren. Es wird nicht mehr so wehtun.“ Es ist eine Lüge, und Kathlyn weiß das
genauso gut wie ich.
    „Warum?“,
sie schaut mich an. „Warum tun Sie mir das an?“
    Ich
löse die LEDs von den Wänden und der Tür.
    „Warum?“
    Schalte
sie aus.
    „Warum?“
    Lasse
sie im Dunkeln hinter mir zurück.
    „Warum
haben Sie mir das angetan?“
    Ihre
Stimme wird lauter. „Warum haben sie mir das angetan?“ Aus einer Frage wird ein
Ruf. Aus einem Ruf wird ein Schrei. „Warum haben Sie mir das angetan? WARUM
HAST DU BASTARD MIR DAS ANGETAN?“
    Ich
bin mir sekundenlang nicht sicher. Doch, meine Lippen, meine Zunge haben die
Worte geformt und sie haben meinen Mund wirklich verlassen. Aber so leise, dass
Kathlyn es nicht mehr hören kann. Eigentlich nur ein Flüstern.
    „Es
tut mir leid.“
    Schatten
verschlucken mich.
     
     
    Es
ist viel zu heiß in meinem Hotelzimmer. Durch die Wände diffundieren die
Geräusche laufender Fernseher. Mindestens eine  Kochsendung und ein Pornokanal
gehören zum Spektrum der Beschallung. Das und das Summen und Klappern der
defekten Klimaanlage.
    Ich
schaue nicht Fernsehen. Ich habe auch noch nichts gegessen, und der Koffer mit
den Instrumenten, die ich reinigen müsste, steht noch verschlossen neben dem
Bett.
    Im
hohen Spiegel neben dem kleinen Bad betrachte ich mich selbst, als würde ich
mich zum ersten Mal sehen.
    Wir
alle tun das. Ich beobachte es immer wieder. Auch bei meinen Kunden.
    Ich
bin jetzt zwei Jahre alt.
    24
Monate und 9 Tage, um genau zu sein.
    Weiter
reichen meine Erinnerungen nicht zurück, beginnend mit einem Aufwachraum in
kaltem, weißem Licht und einer Plastikbox mit allen Unterlagen über mein
jetziges Leben. Natürlich ist einiges an Wissen erhalten geblieben. Ich spreche
Deutsch, Englisch, Französisch, etwas Russisch, aber ich habe keine Ahnung
wieso und wo ich es gelernt habe. Ich verstehe etwas von Medizin, kann
Injektionen setzen, kann Parietallappen von Okzipitallappen unterscheiden, weiß
aber trotzdem zu wenig, um Arzt sein zu können. Ich kenne mich mit Elektronik
aus, verstehe aber nicht genug davon, um Ingenieur sein zu können. Am
detailliertesten sind meine Kenntnisse über Programmierung und über das Aushebeln
von Sicherheitssystemen, aber ich habe keine Ahnung, wann und von wem ich das
alles gelernt habe. Ich bin etwas über einen Meter achtzig groß, aber gut
austrainiert, und ich kann mich hervorragend mit bloßen Händen verteidigen.
Vielleicht war ich beim Militär?
    Ich
weiß es nicht. Es gibt Narben in meinem Nacken und an meinen Oberschenkeln,
aber wo und wie sie entstanden sind, ist verborgen hinter einem Vorhang aus
weißem Rauschen. Und der Versuch, mich zu erinnern, führt zu Übelkeit und
Kopfschmerzen. So soll es wohl sein, denn ich bin mir sicher, dass ich
freiwillig vergessen habe.
    Daran
besteht für mich kein Zweifel.
    Sie
versprechen dir einen Neuanfang, das
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