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Liebe und andere Schmerzen

Liebe und andere Schmerzen

Titel: Liebe und andere Schmerzen
Autoren: Hrg. Jannis Plastargias
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Katrin Kolk
    FLIEGEN LERNEN
    A Olga will fliegen.
    Vor ihren Füßen gähnt ein Abgrund, eine schroffe, steile Felswand. Sehnsüchtig blickt sie hinab, auf die saftig grünen Wiesen und Büsche und Bäume weit unten im Tal. Sie stellt sich vor, den Schritt nach vorne zu wagen, zu fallen, immer tiefer, immer weiter, dem Grün entgegen, ohne je wieder landen zu müssen. Allem zu entgleiten.
    Doch sie tut es nicht.
    Schuldbewusst denkt sie an alle, die sie im Falle eines Sprunges zurücklassen würde: Ihre Eltern, ihre lieben, immer um sie besorgten, sich für sie und ihre Brüder abarbeitenden Eltern. Ihre beiden jüngeren Geschwister Nikolai und Leo, oft laut und lästig, aber doch liebenswürdig. Ihre Großmutter, die ihrer Enkeltochter dringend bedarf, sei es für Einkäufe, sei es für Hausarbeit, sei es für schlichtes Dasein und Zuhören, wenn sonst niemand mehr die Zeit dafür aufbringt. Ihre Freundinnen, mit denen sie zusammen für die Abiturprüfungen lernt. Und schließlich: Die Gemeinde, Pfarrer Ewald, der Selbstlosigkeit und Nächstenliebe predigt – wäre es nicht schrecklich selbstsüchtig, den Schritt über die Kante zu tun und alle, alles zurückzulassen? Und schließlich David, ein wahrer Segen für Olga und vielleicht ihr späterer Ehemann, so Gott will.
    Während sich Olga im Geist diese ihr so wichtigen Menschen alle nacheinander ins Gedächtnis ruft, sich an die schönen Momente erinnert, die sie mit ihnen verbracht hat, wird ihr das fürchterliche Ausmaß ihres Wunsches bewusst und sie weicht entsetzt, entsetzt über sich selbst und ihre Schlechtigkeit und ihren Egoismus, zurück von der steinernen Kante. Verwirrt sucht sie unter den dunklen Tannen Unterschlupf, bemerkt nicht die kratzigen Nadeln, die ihre Schulter streifen und auch nicht das klebrige Harz an ihren Händen, als sie sich zitternd an einen Baumstamm lehnt.
    Ein Dämon hat von ihr Besitz ergriffen, dessen ist sich Olga sicher. Ein böser, abartiger Dämon, der sie von David trennen will, der sie von ihren Eltern, ihrer Familie, von der Gemeinde entfremden und sie zu sich zerren will in eine andere, fremde, gottlose und perverse Welt. Ein Dämon in Gestalt eines wunderschönen Mädchens mit ebenso bezaubernden langen, hellblonden Haaren. Olga schaudert, als sie an diese Haare denkt, die sie heute Morgen in der großen Pause auf dem Schulhof schon wieder wie zufällig streiften. Anna drehte sich um und lächelte ihr entschuldigend zu. Olgas Wangen begannen zu glühen, zumindest fühlte sie, wie die Hitze in ihr aufstieg und wandte sich schnell ab. Stunden später fängt ihr Herz immer noch an zu rasen, wenn sie an die flüchtige Berührung denkt.
    Sie weiß nichts mit sich anzufangen, denkt nur noch an Anna: an ihre blassblauen Augen, an die Grübchen in ihren Wangen wenn sie lächelt, an ihre geschwungenen, vollen Lippen. Sie denkt an die zarten Rundungen an gewissen Körperstellen, die Olga mehr als alles andere verwirren und bis in ihre Träume hinein verfolgen, von denen sie schweißüberströmt, schuldbewusst und mit sehnsuchtsvollem Ziehen im Magen erwacht. Sie versucht den Gedanken an Anna zu verdrängen, schiebt ihn gewaltsam zurück und ruft sich selbst zur Ordnung. Dann marschiert sie mit schnellem Schritt durch das kurze Stück Wald, das den felsigen Rückzugsort von ihrem Heimatdorf trennt.
    Das Gemeindezentrum der Landmission zu Waldstein ist aus einem ehemaligen Bauernhof entstanden und die Versammlungshalle befindet sich in der früheren Scheune, die der heraneilenden Olga schon von weitem einladend entgegenstrahlt. Sie öffnet das nur angelehnte Gartentürchen des weiß getünchten hölzernen Zaunes, der das Gemeindezentrum von der Straße abgrenzt und läuft über den mit kleinen Kieselsteinen ausgelegten Weg zur Versammlungshalle. Die Steine knirschen unter ihren Schuhen. Die Tore der alten Scheune, welche erst letztes Jahr von den Gemeindemitgliedern in sattem Zinnoberrot angestrichen worden ist, sind geöffnet und Olga kann Pfarrer Ewald erkennen, der am Eingang steht und die herankommenden Gemeindemitglieder begrüßt. Sie wird schneller, rennt fast, und steuert nun auf den Pfarrer zu, den sie hier alle bei seinem Vornamen, Ewald, nennen – so wie er es ihnen gesagt hat.
    »Olga, meine Tochter, schön dass du da bist«, sagt Ewald und lächelt sie wohlwollend an. Olga begegnet seinem milden Blick mit einem Gefühl von Dankbarkeit. Sie lächelt zurück, grüßt kurz und hastet ins Innere der Scheune. Stuhlreihen
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