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Liebe und andere Schmerzen

Liebe und andere Schmerzen

Titel: Liebe und andere Schmerzen
Autoren: Hrg. Jannis Plastargias
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Stunde ruft, verhindert die Befragung, zu der Hannah angesichts dieses merkwürdigen Verhaltens von Olga ansetzen möchte, vorerst.
    Am Freitagabend geht Olga nicht in die Kirche. Zu aufgewühlt, zu euphorisch ist sie, als dass sie sich jetzt ruhig, gesittet und andächtig der Predigt Ewalds widmen könnte, ganz so, als sei nichts gewesen, als wäre alles beim Alten. Ruhe und Besinnung ist das Letzte, worauf sie nach dem Treffen mit Anna Lust hat, und so hat sie bei ihren Eltern eine Magenverstimmung vorgetäuscht. Sobald die beiden mit Leo und Niko in der Kirche sind, macht sie sich auf den Weg in den Wald. Sie rennt so schnell sie kann zwischen den hohen, majestätischen Bäumen hindurch, über weichen, moosigen Waldboden, durchs Dickicht, über Stock und Stein. Sie läuft sich fast die Seele aus dem Leib, keucht, wird langsamer, und sobald sie wieder Atem hat, beschleunigt sie erneut, springt über Baumstämme, klatscht herabhängende Äste ab wie ein jubelnder Fußballspieler die feiernde Meute nach einem Tor. Erst als sie nach langen Umwegen an ihrem Lieblingsort, dem Felsvorsprung, landet, kommt sie zur Ruhe, lässt die Beine den Abgrund herunterbaumeln und blickt träumerisch ins Blau über sich.
    Drei Stunden lang hatten sie zusammengesessen – eine davon ganz allein, weil Hannah um vier mit Tobi verabredet war.
    Als Olga schon zusammenpacken wollte, hielt Anna sie zurück:
    »Wollen wir noch ein bisschen machen? Ich hab das mit der ›Aufleitung‹ von Funktionen noch nicht ganz verstanden ...«
    Und so blieben sie noch bis fünf im leeren Oberstufenraum sitzen – niemand sonst war so verrückt, an einem Freitag freiwillig bis in den späten Nachmittag hinein in der Schule zu sitzen. Zum Glück. Nie hat Olga sich wohler in ihrer Haut gefühlt, als in der einen Stunde allein mit Anna. Mathe liegt ihr im Blut, es fällt ihr leicht, Anna die Aufgaben aus dem Unterricht zu erklären. Auf alle Fragen weiß sie eine Antwort, und je länger sie zusammensitzen, umso mehr bröckelt in Olga der riesige Klumpen, der seit Wochen in ihrer Brust sitzt, der Klumpen aus Angst und Abscheu und Verzweiflung und grenzenloser Schüchternheit, nach und nach. Sie wird selbstsicherer, mutiger, lächelt Anna an, schert sich einen Teufel darum, was Hannah wohl hiervon halten mag. Sie genießt Annas Aufmerksamkeit, ihre Bewunderung angesichts Olgas mathematischer Allwissenheit – und noch vielmehr genießt sie ihre Nähe, die kurzen, scheinbar zufälligen Berührungen, ihren Geruch, der sie magisch anzieht und der ein schmerzhaftes, aber gleichzeitig wundervolles Ziehen in ihrem Bauch verursacht.
    »Vielen, vielen Dank dafür, dass du mir das alles so super erklärt hast! Ich denke, ich schulde dir mindestens einen Kaffee«, lacht Anna.
    Olga lächelt verlegen, und nachdem sich Anna mit einer langen Umarmung von ihr verabschiedet hat, schlendert sie selig vor Glück durch die Straßen nach Hause, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
    Hier oben auf ihrem Felsen, weit ab von allem Geschehen, kommt sie langsam wieder zu sich, und in die Euphorie, die das Zusammensein mit Anna ausgelöst hat, die Nähe zu ihr, das Gefühl von Geborgenheit, das sie neben Anna erfasst hat und das bei David nie aufkommt, mischt sich Verwirrung. Sie lässt den Blick schweifen über die Landschaft – die Berge, vom Wald in dunkles Grün getaucht, das Tal, in dem sie eine Schafherde weiden sieht, schließlich den felsigen Abgrund direkt vor sich. Sie kann sich nicht erklären, was passiert ist, warum sich ausgerechnet bei Anna alle Probleme, alle Unklarheiten in Luft auflösen, warum sie sich nur mit ihr zum ersten Mal ›richtig‹ fühlt, sich selbst spürt, wie wenn ein innerer Hebel, den sie bislang vergeblich gesucht und jetzt erst gefunden hat, in die richtige Position umgestellt wird.
    Sie denkt zurück an das Treffen mit David am letzten Samstag und fühlt sich auf einmal wie eine Schauspielerin – so sehr sie sich auch in den vergangenen Tagen einzureden versucht hat, wie schön es mit ihm gewesen sei, wie gut er ihr tue, und dass der nächste Kuss mit ihm sicher angenehmer wäre – es fühlt sich alles falsch und fad an, nicht im Ansatz vergleichbar mit Anna. Für eine Sekunde schießt ihr die Vorstellung, nicht mit David, sondern mit Anna an der Breg zu sitzen und sie zu küssen, durch den Kopf und lässt sie erzittern. Schon ist das Bild weg und Olga errötet angesichts dieser unfassbaren Idee, obwohl sie niemand sehen
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