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Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt

Titel: Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
Autoren: Ayse
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Vorwort
    von Serap Çileli
     
    »Eine Jungfrau soll ohne ihr Einverständnis nicht verheiratet werden. Und genügend als (Zeichen der) Zustimmung soll ihr Schweigen sein (wegen ihrer natürlichen Schüchternheit).«
    Hadis: Buchari, Muslim
     
    Aus meiner Sicht ist dieser Satz die Lizenz zur Zwangsheirat »im Namen Allahs«. Bei den Männern hingegen ersetzt das Schweigen die Bejahung nicht, vielmehr gilt es als unmännlich, als »weibisch«. Der Schlüssel zu diesem Rollenverständnis liegt zweifellos in der Erziehung. Der Raum, in welchem diese stattfindet, ist die Familie. Dort wird die »Erziehung zum Individuum« durch »Bevormundung« ersetzt. Die »Sorgeberechtigten«, die Eltern oder die Familien, haben in der traditionellen türkischen Gesellschaft ungeheure Macht über ihr Kind. Von der absoluten Verfügungsgewalt bis hin zum Tötungsrecht. Sie entscheiden, was gut und was böse ist, was erlaubt und was verboten ist, welche Rechte und Pflichten die Kinder haben.
    Mit den heranwachsenden Mädchen geht man besonders streng um: Sie werden zu Hause eingesperrt, damit sie später als Ehefrauen beherrschbar sind; sie werden ohne Ziele und Perspektiven erzogen, ohne Nahrung für das Selbstwertgefühl. Es wird ihnen beigebracht, Gefühle der Wut, des Zornes, des Ärgers zu unterdrücken. Diese unwürdige Erziehungsmethode führt zu Folgsamkeit und Unterwerfung.
    Folglich wird das Schweigen als Zeichen für Treue, Unterwerfung und Gehorsam gewertet. In Wahrheit ist es aber der Beginn eines Lebens in Knechtschaft.
    Wie Ayşe wurde auch ich im Kindesalter verlobt. Während sie aus einem kleinen türkischen Dorf in das »gelobte Land« Deutschland verschachert wurde, wo sie den ganzen Tag in einer Fabrik und anschließend bis in die Nacht hinein als »Haussklavin« für ihre Schwiegermutter schuften musste, wurde ich aus dem Kreis meiner deutschen Schulfreundinnen gerissen und sollte als »Kindbraut« in die mir völlig fremde Welt Anatoliens zu einem zehn Jahre älteren Ehemann ziehen, um Kühe zu hüten und in einem Erdloch zu kochen.
    Sowohl meine Familie als auch Ayşes Schwiegereltern »spielten« nach außen hin eine moderne, in die deutsche Mehrheitsgesellschaft integrierte Gemeinschaft. Doch hinter der Türschwelle waren wir Gefangene der archaischen Traditionen. Kopftuch- zwang, häusliche Gewalt, patriarchalische Ehr- und Moralvorstellungen, Zwangsheirat und Ehrenmorde bestimmen das Leben der türkisch-muslimischen Frauen und Mädchen. Seit vier Jahrzehnten spielen sich diese Schicksale in Parallelwelten mitten in dem demokratischen Rechtsstaat Deutschland ab. Seit vier Jahrzehnten haben wir unter dem Deckmantel der Toleranz und des Schutzes der Privatsphäre Menschenrechtsverletzungen akzeptiert, mit dem bequemen Argument der Offenheit gegenüber fremden Kulturen, Traditionen und Religionen. Uns, und mit uns tausenden jungen türkischen Frauen, wäre eine Menge erspart geblieben, wenn die Politiker unser Leid als ihr Leid empfunden hätten.
    Ayşe hat es nach neunzehn Jahren erreicht, aus der Hölle der Zwangsheirat zu fliehen. Ich brauchte dreiundzwanzig Jahre, um die Stimme gegen meinen Vater zu erheben und seine Einwilligung zur Scheidung zu fordern. Vater drohte mir, mich eher in tausend Stücke zu zerreißen und mein Fleisch den Hunden zum Fraß vorzuwerfen als Schande über seinem Haus zuzulassen. Es sei meine Aufgabe als Frau, die Ehe in Tagen der Verlockung und Gereiztheit zu behüten, um diesen geheiligten Bund zu retten, bis dass der Tod mich ehrt.
    Traditionelle türkische Väter betrachten geschiedene Töchter als Last und scheuen sich nicht davor, sich von dieser schändlichenLast zu befreien. Sei es durch eine erneute Zwangsheirat, durch Verstoßen aus dem Familienverband oder im Extremfall durch den Tod. Wer Glück hat, darf unter Aufsicht in lebenslanger Knechtschaft leben. Mit anderen Worten: Die Todesstrafe wird durch lebenslange Freiheitsstrafe ersetzt. Es geht hier um Selbstjustiz, um ein ungeschriebenes Gesetz, um die so genannte Ehre des Patriarchen und der Familie, um Leben und Tod.
    Ich beschloss, mich gegen die despotischen Forderungen der Ehrtradition zu wehren. Es war, als würde ich neben mir sitzen und ein Selbstgespräch führen: »Das musst du tun, koste es, was es wolle!« Nach dreiundzwanzig Jahren also erhob ich zum ersten Mal in meinem Leben die Stimme gegen meinen Vater: »Wenn du mir jetzt deine Einwilligung zur Scheidung nicht erteilst, werde ich meine Kinder und mich
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