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Nordermoor

Nordermoor

Titel: Nordermoor
Autoren: Arnaldur Indriðason
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genau festlegen können, aber Erlendur vermutete, dass der Mord wohl um die Mittagszeit begangen worden war, sozusagen mitten in der Hauptgeschäftszeit. Wer hat heutzutage Zeit für so etwas?, kam es ihm in den Sinn. Die Meldung wurde an die Medien weitergeleitet, die berichteten, dass ein Mann um die siebzig tot in seiner Wohnung in Nordermoor aufgefunden und wahrscheinlich ermordet worden war. Diejenigen, die in den letzten vierundzwanzig Stunden irgendetwas Verdächtiges in oder bei Holbergs Haus bemerkt hatten, wurden gebeten, sich mit der Kriminalpolizei in Reykjavík in Verbindung zu setzen.
    Erlendur war um die fünfzig und seit vielen Jahren geschieden, Vater von zwei Kindern. Er hatte noch nie jemandem verraten, dass er die Namen seiner Kinder nicht ausstehen konnte. Seine ehemalige Frau, mit der er seit mehr als zwei Jahrzehnten kaum gesprochen hatte, hatte die Namen damals so süß gefunden. Die Scheidung war schwierig gewesen, und Erlendur hatte den Kontakt zu seinen Kindern weitgehend verloren, als sie noch klein waren. Sie kamen zu ihm, als sie größer wurden, und er nahm sie liebevoll auf. Er war schockiert darüber, in was sie hineingeraten waren. Ganz besonders das Schicksal von Ev a Lind machte ihm zu schaffen. Sindri Snær war etwas besser dran, oder vielleicht auch nicht.
    Er nahm das Essen aus der Mikrowelle und setzte sich an den Küchentisch. Seine Zweizimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus war voll gestopft mit Büchern, wo immer sich Platz bot. An den Wänden hingen alte Familienbilder von Verwandten in den Ostfjorden, denn Erlendur stammte von dort. Er besaß keine Fotos von sich selbst oder seinen Kindern. Ein altersschwacher Nordmende-Fernseher stand an der Wand und ein nicht minder altersschwacher Sessel davor. Erlendur hielt die Wohnung mit einem Minimum an Aufwand einigermaßen in Ordnung.
    Er wusste nicht ganz genau, was er da aß. Außen auf der buntbedruckten Packung stand etwas von fernöstlichen Delikatessen, aber das Gericht, das sich in einer Art Mehlteig versteckte, schmeckte wie säuerliche Brotsuppe. Erlendur schob das Zeug von sich weg. Er überlegte, ob nicht noch etwas von dem Roggenbrot da war, das er vor einigen Tagen gekauft hatte. Und der Fleischpastete. In dem Moment klingelte es an der Tür. Eva Lind hatte ein »drop-in« beschlossen. Es ging ihm auf die Nerven, wie sie sprach.
    »Und alles senkrecht, Alter?«, fragte sie, schlüpfte zur Tür herein und warf sich gleich auf das Sofa im Wohnzimmer.
    »Mädchen«, sagte Erlendur und machte die Tür zu. »Red nicht in dieser blöden Sprache mit mir.«
    »Ich dachte, du wolltest, dass ich mir Mühe gebe mit der Sprache«, sagte Eva Lind, die nicht wenige Vorträge ihres Vaters über gutes Isländisch über sich hatte ergehen lassen müssen.
    »Dann erzähl mir was Vernünftiges.«
    Es war schwierig auszumachen, wer sie dieses Mal war. Eva Lind war die beste Schauspielerin, die er kannte, aber das wollte nicht viel besagen, denn er ging nie ins Theater oder ins Kino, und das Fernsehen machte er nur an, wenn ein Dokumentarfilm kam. Eva Linds Theaterstücke waren meistens Familiendramen in ein bis drei Akten, und sie hatten zum Thema, wie man Erlendur am besten Geld abluchsen konnte. Es geschah nicht oft, denn Eva Lind hatte ihre eigenen Methoden, zu Geld zu kommen, über die Erlendur so wenig wie möglich wissen wollte. Aber hin und wieder kam es vor, dass sie keinen »goddamncent« besaß, wie sie sich ausdrückte, und dann kam sie zu ihm.
    Manchmal war sie sein kleines Mädchen, kuschelte sich an ihn und schnurrte wie eine Katze. Manchmal war sie am Rande des Abgrunds, hetzte hektisch durch die Wohnung und machte ihm die Hölle heiß mit Vorwürfen, dass er sie und Sindri Snær so jung im Stich gelassen hatte. Außerdem konnte sie obszön und hinterhältig und bösartig sein. Manchmal kam es ihm so vor, als sei sie ganz offen und natürlich, wenn es denn etwas gab, was natürlich genannt werden konnte, und dann schien es Erlendur, als könne er mit ihr wie mit einem normalen Menschen sprechen.
    Sie trug schäbige Jeans und eine schwarze Lederjacke, die ihr bis zur Taille reichte, und das Haar war kurz und rabenschwarz. In der rechten Augenbraue klemmten zwei kleine Ringe, und am einen Ohr baumelte ein silbernes Kreuz. Sie hatte schöne weiße Zähne gehabt, die aber jetzt in Mitleidenschaft gezogen waren; im Oberkiefer fehlten zwei. Das sah man, wenn sie ihr breites Lächeln aufsetzte. Sie war spindeldürr und wirkte
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