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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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Apotheke, anders. Schlimmer.
    Ich habe Angst, dass ich zu spät komme. Deswegen zögere ich, obwohl es auf jede Sekunde ankommen kann.
    Ich hole einmal tief Luft, dann drücke ich die Klinke herunter und schiebe die Pforte zur Seite. Mel liegt auf dem Boden und atmet schwer. Ihr Gesicht ist blau angelaufen. Sie sieht mich an, sagt aber nichts. Ich weiß, was ich tun muss. Ich reiße eine der drei Packungen auf, hole das Spray heraus und knie mich neben sie. Dann nehme ich Mels Kopf in meinen freien Arm, stecke ihr die Sprühpumpe in den Mund und drücke ab. Dreimal.
    Fünf Atemzüge später kommt wieder so viel Luft in ihrer Lunge an, dass sich ihre Gesichtszüge ein wenig entspannen. Nach weiteren fünf Atemzügen weicht das Blau aus ihren Wangen und ihre Haut rötet sich leicht. Nach fünfzehn Mal Luftholen lege ich ihr den Fuchspelz um die Schultern.
    „Danke“, sagt Mel und lächelt mich an.
    Ich lächele auch.
    Wir lächeln beide.

 

    „Wo hast du das eigentlich her, Elvis?“, fragt Mel und zeigt auf das Spray.
    „Aus der Apotheke“, antworte ich wahrheitsgemäß.
    „Das kriegt man aber nicht einfach so. Dafür braucht man ein Rezept.“
    „Nicht, wenn es ein Notfall ist“, behaupte ich. Mel braucht nicht zu wissen, dass ich für sie in eine Apotheke eingebrochen bin, sonst bildet sie sich darauf noch was ein. Ehe sie nachhaken kann, wechsele ich schnell das Thema. „Was machst du überhaupt hier? Warum hast du nicht im Hauseingang auf mich gewartet?“
    „Da kam so eine Alte mit einer Ratte an der Leine. Die hat die ganze Zeit mit ihrem Stock in der Luft rumgefuchtelt und gebrüllt, dass sie von einem Außerirdischen angegriffen wurde. Total gaga! Da habe ich mich lieber verzogen.“
    Ich muss grinsen, aber das sieht Mel nicht. Sie hat sich nach vorne gebeugt und ihr rechtes Hosenbein hochgeschoben, um die Adresse ihres Bruders nachzulesen.
    „Du bist nicht zufällig an der Melchiorstraße vorbeigekommen?“
    Ich schüttele den Kopf. „Willst du dich nicht lieber noch etwas erholen?“, frage ich zurück, weil ich mir Sorgen um sie mache. Einerseits.
    Andererseits kann es bei der bevorstehenden Versöhnung meiner Eltern auf jede Minute ankommen. Je mehr Zeit sie haben, desto besser, und ich weiß, dass unsere Reise zu Ende ist, sobald wir Mels Bruder gefunden haben.
    „Quatsch, wir müssen weiter“, sagt Mel und erhebt sich. Das Spray ist ein echtes Wundermittel. Obwohl sie vor fünf Minuten fast erstickt wäre, ist sie wieder putzmunter. Ganz im Gegensatz zu mir. Mein Knie tut weh, die Bisswunde pocht und die Blasen an meiner Hand sind auch nicht ohne. Außerdem jucken die Mückenstiche in meinem Gesicht. Und als wäre das alles noch nicht genug, verabschiedet sich auch das Adrenalin aus meinem Körper, das mich während des Einbruchs und danach bei Laune gehalten hat.
    Mir geht es echt beschissen.
    Mel steht schon draußen auf der Straße und spricht mit drei Typen, die Trikots der Nationalmannschaft tragen. Sie haben eine schwarz-rot-goldene Fahne in der einen und eine Flasche Bier in der anderen Hand. Dass es nicht ihre erste Flasche ist, kann ich riechen, noch bevor ich sie erreicht habe. Zuverlässige Informanten sehen anders aus, aber die drei sind die Einzigen weit und breit, die Mel nach dem Weg fragen kann. Zur Touristeninformation können wir ja schlecht. Da hängen bestimmt schon Fahndungsplakate von uns.
    Dass die Jungs den Sieg der deutschen Mannschaft bereits ausgiebig gefeiert haben, hat zumindest den Vorteil, dass ihnen unsere Klamotten nicht merkwürdig, sondern ganz normal vorkommen.
    „Bus!“, rülpst einer der drei und zeigt mit seiner Fahne eine Straße entlang, während seine Kumpels tiefsinnig „Ole, Oleoleole!“ grölen.
    „Welchen Bus?“, fragt Mel geduldig.
    „Linie 0815 Richtung Rathausplatz“, lallt der Typ und nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Pulle. Erst als er die Flasche wieder absetzt, spricht er weiter. Das Reden fällt ihm hörbar schwer, weil ihm der Alkohol die Zunge verknotet hat. Trotzdem gibt er sich allergrößte Mühe, das muss man ihm lassen. „Da steigst du um in den 007er. Melchiorstraße ist die dritte Haltestelle. Gar nicht zu verfehlen.“
    „Danke“, erwidert Mel freundlich, aber da läuft er schon seinen Fahnen schwenkenden Freunden hinterher, die „Wir sind die Champions“ singend in Richtung Apotheke unterwegs sind. Einer von ihnen zerschmettert seine leere Bierflasche an einer Hauswand. Der ahnt ja nicht, dass hinter der
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