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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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Schubladenwand sitze, geht es besser. Ich entspanne mich und schließe die Augen. In Gedanken sehe ich mich als kleinen Jungen. Ich bin vielleicht drei oder vier und schwebe zwischen meinen Eltern, die mit mir Engelchenflieg spielen. Ich muss lächeln, auch wenn mir diese Erinnerung im Augenblick überhaupt nicht weiterhilft. Schön ist sie trotzdem. Die nächsten Bilder in meinem Kopf sind alle jüngeren Datums: meine Eltern, die sich streiten, unsere alte Köchin Elisabeth, die mir mein Lieblingsessen kocht, und dann Mel, wie sie mir in der Autobahnraststätte gegenübersitzt und meine kalten Pommes futtert. Wir kommen der Sache näher, aber ich darf nicht drängeln, sonst wird das nichts mit dem Unterbewussten. In meinem Kopf läuft unsere Flucht ab, als wäre es ein Kinofilm. Und soll ich was sagen? Ich würde mir für die Story glatt eine Eintrittskarte kaufen. Gerade als Mel und ich aus dem Wagen der vermeintlichen Telefonhörer-Killerin gesprungen sind, höre ich draußen Polizeisirenen. Die sind echt, aber noch ziemlich weit weg. In meinem Kopfkino hockt Mel endlich in dem Hauseingang, atmet schwer und flüstert: „Sal… bu… ta… mol.“
    So ein Scharlatan, wie ich geglaubt hatte, scheint Mamas Guru gar nicht zu sein. Sollte ich ihn jemals wiedersehen, werde ich mich bei ihm entschuldigen.
    Ich laufe zu den Regalen. Die Medikamente sind alphabetisch geordnet, das macht die Suche leichter. Um an die Buchstabenkombi „Sal“ zu kommen, brauche ich eine Leiter. Davon gibt es hier jede Menge. Sie laufen an Schienen an der Wand entlang und ich muss sie nur an die richtige Stelle schieben.
    Der Rest ist ein Kinderspiel. Ich steige die Sprossen hoch und ziehe die richtige Schublade raus. Dann krame ich mich durch einen Haufen Medikamente, die alle mit „Sal“ anfangen, während die Polizeisirene immer näher kommt. Endlich habe ich Mels Spray gefunden. Ich schnappe mir sicherheitshalber gleich drei Packungen und stopfe sie in meine Hosentasche.
    Es wird höchste Zeit, zu verschwinden. Deshalb verzichte ich auf das Tollwutmittel und hoffe, dass der Kläffer abgesehen von Überfettung gesund war.
    Als ich die Apotheke verlasse, sehe ich am Ende der Straße die blinkenden Lichter der Streifenwagen auf mich zurasen. Ich ziehe den Helm aus und klemme ihn mir unter den Arm. Dann mache ich ein möglichst harmloses Gesicht, schlendere die Straße entlang und hoffe, dass ein Zwölfjähriger aus gutem Elternhaus, der gerade sein Fechttraining beendet hat, für einen Apothekeneinbruch nicht infrage kommt. Ich versuche sogar, nicht zu humpeln, um nicht unnötig aufzufallen. Das Risiko, dass die Polizisten mein Gesicht von den Fahndungsfotos wiedererkennen, nehme ich in Kauf. Die sind auf der Suche nach einem Einbrecher, nicht nach einem entführten Millionärssohn. Polizisten können sich nur auf jeweils eine Sache konzentrieren, sonst wären sie keine Polizisten geworden, sondern erfolgreiche Geschäftsleute wie mein Vater. Der behält die Börsen in Asien, USA und Europa gleichzeitig im Auge. Das ist so, als müsste ein Verkehrspolizist drei Kreuzungen auf einmal überwachen.
    Als wollten sie meine Theorie bestätigen, rasen die Streifenwagen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Ich drehe mich nicht um, aber ich höre, wie sie mit quietschenden Bremsen vor der Apotheke halten.
    Zu diesem Zeitpunkt bin ich längst an der Stelle vorbei, an der die alte Dame mit dem Pekinesen über mich hergefallen ist. Und von da aus ist es nicht mehr weit bis zu dem Hauseingang, wo Mel auf mich wartet.
    Das Haus finde ich mühelos wieder.
    Aber Mel finde ich nicht.
    Nur ihr Fuchspelz liegt auf den Stufen. Die schwarzen Augen des ausgestopften Tieres starren über die Straße auf eine kleine Holzpforte, die zwischen zwei Häusern einen schmalen Durchgang versperrt.
    Ich folge seinem Blick und es dauert einen Moment, bis ich kapiere, dass das ein Hinweis ist.
    Ich schnappe mir den Pelz und laufe quer über die Straße, während aus den Häusern schon wieder lauter Torjubel ertönt. Können die nicht mal aufhören, so rumzubrüllen? Das Gegröle nervt. Ich bin hier gerade dabei, ein Leben zu retten! Man muss doch nicht so rumschreien, nur weil irgendwer irgendwo einen Ball zwischen drei Holzstangen versenkt hat. Die sollten sich ihren Jubel lieber aufheben, bis Mel endlich wieder Atem kriegt. Das ist wichtiger, viel wichtiger.
    Als ich die Hand auf die Klinke der Holzpforte lege, kriege ich wieder Schiss. Nicht so, wie eben in der
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