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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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sage ich, obwohl ich selbst nicht glaube, dass es nur gespielt ist.
    Mel kriegt tatsächlich keine Luft mehr. Sie röchelt und ihre Augen sind wieder so weit aufgerissen wie damals in unserem Heimkino. Das ist kein Lachen mehr.
    „Mein Spray!“, stöhnt Mel, obwohl sie genauso gut weiß wie ich, dass das immer noch in der Villa meines Vaters ist. Kleine Korrektur: Dass die Villa meinem Vater gehört, weiß sie natürlich nicht.
    Es geht ihr zusehends schlechter. Mel hat sich auf die Treppenstufen in einen Hauseingang gesetzt und atmet schwer. Man kann richtig spüren, wie wenig Sauerstoff in ihrer Lunge ankommt. Sie braucht dieses Spray, so schnell wie möglich.
    „Wie heißt das Zeug?“, frage ich.
    „Sal… bu… ta… mol“, flüstert Mel.
    „Salbutamol“, wiederhole ich und ziehe die Seifenpistole aus Mels Hosenbund. Vielleicht kann sie mir nützlich sein.
    „Warte hier auf mich! Ich bin gleich wieder da!“
    Dann setze ich mir meine Fechtmaske auf, drehe mich um und renne die Straße mit dem Kopfsteinpflaster entlang, die mich hoffentlich irgendwo hinführt, wo es eine Apotheke gibt.

 

    Selbst wenn Anna eine verkleidete Serienkillerin gewesen wäre und selbst wenn sie eine Pistole im Handschuhfach gehabt hätte – ich wäre ihr trotzdem unendlich dankbar.
    Sie hat uns nach Rostock mitgenommen. Wenn Mel ihren Anfall irgendwo in der Pampa bekommen hätte, wären wir total aufgeschmissen gewesen. Die Leute dort müssen bestimmt bei jedem Schnupfen in die nächste Stadt geflogen werden. Wie in Australien, wo die Ärzte in Propellermaschinen zu ihren Patienten jetten, weil das Land so groß und leer ist.
    Leer ist es aber auch in Rostock. Die Straßen sind wie ausgestorben. Niemand da, den ich nach der nächsten Apotheke fragen könnte. Es ist Samstagnachmittag, und wahrscheinlich hocken alle vor dem Fernseher und gucken sich das Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft an, das gestern in den Nachrichten angekündigt wurde.
    Die Geschäfte sind schon alle dicht, zumindest die, an denen ich vorbeirenne, während ich mir „Salbutamol, Salbutamol, Salbutamol“ vorsage, damit ich den Namen nicht vergesse.
    Sicherheitshalber bleibe ich auf der Straße mit dem Kopfsteinpflaster. Ich habe Angst, mich zu verlaufen, wenn ich auch noch die Seitengassen abklappere. Was nützt mir das Spray, wenn ich nicht wieder zu Mel zurückfinde?
    Plötzlich taucht vor mir eine alte Dame auf, die sich auf einen Stock stützt und einen dicken Pekinesen an der Leine führt. Sie scheint sich nicht für Fußball zu interessieren, und das ist gut so. Endlich ist jemand da, den ich fragen kann. Und weil die Frau schon so alt ist, weiß sie bestimmt genau, wo die nächste Apotheke ist.
    „Entschuldigung. Können Sie mir bitte sagen, wo …“
    Weiter komme ich nicht, weil die Frau erschrocken zurückweicht und sofort anfängt, etwas zu brüllen, was ich nicht verstehe.
    Für einen Moment erhasche ich mein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe. Mit der Maske und der verschmutzten Fechtjacke sehe ich aus wie ein obdachloser Außerirdischer. Und dass ich eine Pistole aus Seife in der Hand halte, macht die Sache nicht besser. Die Maske aufzusetzen, damit mich keiner erkennt, war vielleicht doch keine so gute Idee.
    Während sein Frauchen aufgeregt brüllt, kläfft und knurrt der Hund, als würde ich ihm seinen Knochen klauen wollen. Es ist ein Wunder, dass nicht überall die Fenster aufgehen. Aber wahrscheinlich liegt Deutschland gerade knapp in Führung und die Franzosen drängen auf den Ausgleich oder umgekehrt, und so einen spannenden Moment will natürlich keiner verpassen.
    Als ich vor der Alten und ihrem Kläffer fliehen will, verheddern sich meine Füße in der Hundeleine und ich lege mich auf die Nase. Mein rechtes Knie knallt schmerzhaft auf die Bordsteinkante. Der Pekinese nutzt das sofort aus und schlägt seine spitzen Zähnchen in meine linke Wade. Sollte ich eine Apotheke finden, werde ich mir gleich auch was gegen Tollwut geben lassen.
    Ich springe auf die Beine und laufe los, so gut das mit einem lädierten Knie und einer Bisswunde geht. Ich humpele auf dem Kopfsteinpflaster davon und höre, wie das Gezeter und Gekläffe hinter mir immer leiser wird.
    Und dann endlich!
    Am Ende der Straße entdecke ich eine Leuchtreklame mit einem roten A in altmodischer Schrift und einer Schlange, die sich um einen Kelch windet. Die Schlange sähe nicht besonders vertrauenerweckend aus, wenn es nicht das Symbol für eine Apotheke
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