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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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wäre.
    Ich beschleunige mein Hinken und kurz darauf stehe ich vor der Tür. Sie ist zu.
    Natürlich ist sie zu und natürlich hat der Apotheker heute keinen Notdienst. Etwas anderes war bei meiner Pechsträhne auch kaum zu erwarten. Neben der gläsernen Eingangstür hängt ein Schild, auf dem die Filialen verzeichnet sind, die die Rostocker Bevölkerung nach Ladenschluss und sogar an Sonn-und Feiertagen mit Medikamenten beliefern. Die Bären-Apotheke in der Prerowstraße ist heute mit dem Notdienst dran. Aber das nützt mir überhaupt nichts. Ich habe keine Ahnung, wo die Prerowstraße ist. Ich weiß nicht einmal, wo ich gerade in diesem Augenblick bin. Mein Smartphone mit der GPS -Funktion liegt auf dem Grund eines versumpften Sees.
    Über dem Eingang zur Apotheke ist eine Überwachungskamera und höchstwahrscheinlich gibt es auch eine Alarmanlage. Die Kamera ist mir egal, ich habe ja meine Fechtmaske auf, aber die Alarmanlage macht mir Sorgen. Bestimmt ist sie mit der nächsten Polizeiwache verbunden und lässt da sofort hundert rote Lämpchen aufleuchten.
    Ich überschlage im Kopf, wie lange es wohl dauert, bis die Polizei auftaucht. Das hängt natürlich davon ab, wie weit die Wache entfernt ist und ob die Polizisten auch gerade das Länderspiel gucken. Ich schätze, dass ich fünf Minuten habe, mit etwas Glück sieben.
    Das praktische an alten Pflastersteinstraßen ist, dass meistens irgendwo einer von den Steinen fehlt. Und wenn einer fehlt, kann man sich den Stein daneben rauspulen und mit dem die Scheibe einer Apotheke einwerfen. Echt, das ist viel leichter, als ich gedacht hatte.
    Und endlich läuft es nach den vielen Spinnern, die wir unterwegs getroffen haben, und dem ganzen Mist, der passiert ist, auch mal ein bisschen rund für mich: Genau in dem Augenblick, als der Stein durch die Scheibe kracht, ertönt aus den Häusern ringsum ein kollektiver Torschrei. Deutschland muss in Führung gegangen sein oder das wichtige Anschlusstor gemacht haben. Keine Ahnung, Hauptsache die Scheibe ist unbemerkt in tausend Stücke zersprungen, sodass ich die Apotheke problemlos betreten kann.
    Die Helden in meinen Büchern fühlen sich immer verdammt cool, wenn sie etwas Verbotenes tun. Ich habe einfach nur Schiss. In eine Apotheke einzubrechen, ist schon ein anderes Kaliber, als sich ein Tretboot auszuleihen, und ich bin sicher, die Polizei sieht das ähnlich.
    Ich habe Schiss, aber kein schlechtes Gewissen. Keine Spur. Wenn man am Verhungern ist und sich etwas zu Essen klaut, ist das Mundraub und das ist gesetzlich erlaubt. So etwas Ähnliches gilt bestimmt auch für lebenswichtige Medikamente, obwohl ich bezweifle, dass man bei einer Bäckerei auch die Scheibe einwerfen darf, um nach Ladenschluss an ein Brötchen zu kommen.
    Ich laufe durch das Geschäft und um die Theke herum, weil dahinter ein Durchgang ist, der in einen fensterlosen Raum führt. An den Wänden sind hohe Schränke mit vielen flachen Schubladen. Jede Wette, da sind die Medikamente drin und in einem dieser geschätzt tausendzweiundzwanzig Fächern ist auch Mels Spray mit dem komischen Namen Sa… Sub… Soba…
    Verdammt, ich habe den Namen vergessen!
    „Los! Mach schon! Konzentrier dich!“, feuere ich mich selbst an. Dabei habe ich die ganze Zeit Mel vor Augen, die irgendwo auf den Treppenstufen eines Rostocker Hauseingangs erstickt. Das macht mir das Konzentrieren nicht leichter.
    Und dann habe ich plötzlich eine Eingebung.
    Wenn ich bei meiner Mutter bin, begleite ich sie manchmal zu ihrem Yoga-Unterricht. Sie hat einen Privatlehrer, der sein halbes Leben in Indien verbracht hat und dort so eine Art Guru ist. Wenn er sich in Delhi auf der Straße blicken lässt, bricht der Verkehr zusammen, hat er ihr mal erzählt. Erst später habe ich mitgekriegt, dass der Verkehr in der indischen Hauptstadt jeden Tag zusammenbricht, ganz gleich, ob da gerade ein Guru auftaucht oder nicht.
    Bei den Besuchen habe ich ein bisschen was über Meditation aufgeschnappt. Wenn man sich ganz in sich selbst versenkt, kann man tief in sich Dinge finden, die man nicht erwartet hat. Zum Beispiel den Ort, an dem man einen Schlüssel verlegt hat, oder den vergessenen Namen eines Asthma-Sprays.
    Obwohl die Polizei jeden Moment auftauchen kann, hocke ich mich im Schneidersitz in die Mitte des Raumes und versuche, alles um mich herum auszublenden. Das ist nicht leicht, wenn man dabei auf eine zertrümmerte Glastür starrt. Als ich mich umdrehe und mit dem Gesicht zur
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