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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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dass sie den Fahrern und Passagieren keinen frechen Spruch reingedrückt hat, als die uns alle so angeglotzt haben.
    Ich hätte auch Angst, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Trotzdem sage ich: „Das ist völliger Schwachsinn. Wir reisen um die halbe Welt, um deinen Bruder zu treffen, und dann kneifst du, nur weil er im dreizehnten Stock wohnt?“
    Mel steht und starrt.
    „Kommst du mit?“, fragt sie wieder mit dieser leisen Stimme, ohne dabei das Klingelschild aus den Augen zu lassen.
    „Wie bitte?“
    „Ob du mit raufkommst. Hörst du schlecht?“
    „Klar komm ich mit, wenn du willst“, antworte ich. Auch weil die beiden Halbstarken es sich auf einer Bank gegenüber dem Hauseingang bequem gemacht haben und uns nicht aus den Augen lassen, während sie sich mit ihren Klappmessern den Dreck unter den Fingernägeln entfernen. Die denken vielleicht wirklich, wir wären gekommen, um ihnen ihr Revier streitig zu machen. Was glauben die, wo sie leben? Im Paradies?!
    Als die beiden aus dem Haus kamen, habe ich geistesgegenwärtig meinen Fuß in die offene Tür gestellt. Jetzt ziehe ich Mel schnell in den Flur.
    Schweigend fahren wir mit dem Aufzug in den dreizehnten Stock. Er funktioniert reibungslos, was beweist, dass das mit der Dreizehn totaler Blödsinn ist.
    Auch in der Kabine sind die Wände voller Graffitis. Nicht so schöne bunte, wie man sie mittlerweile auch in Museen sieht, sondern eher hässliche, oft nur ein Name mit einer üblen Beschimpfung, die meisten mit noch übleren Rechtschreibfehlern.
    Ich bin froh, als wir endlich aussteigen können.
    Die Wohnung von Mels Bruder liegt genau gegenüber des Aufzugs. Seine Tür ist die Einzige auf dem ganzen Flur, die nicht von oben bis unten mit Edding beschmiert ist. Der Kerl muss eine Art Mafiaboss sein, anders ist das nicht zu erklären. Wundern täte mich das nicht. Schließlich ist er mit Mel verwandt.
    Mel scheint ein echtes Problem mit Türklingeln zu haben. Auch vor dieser bleibt sie stehen und starrt sie einfach nur an. Also übernehme ich das für sie. Statt eines normalen Klingeltons ertönt eine Polizeisirene. Mels Bruder hat Sinn für Humor und zumindest das spricht schon mal für ihn.
    „Vielleicht ist er gar nicht da! Könnte doch sein“, flüstert Mel, als niemand aufmacht. Dabei dreht sie sich halb um, so als wollte sie gleich wieder in den Aufzug hinter uns springen.
    Statt zu antworten, greife ich nach ihrem Arm und halte sie fest. Mit der freien Hand drücke ich noch einmal auf die Klingel.
    Als die Polizeisirene verklingt, sind Schritte zu hören. Kurz darauf öffnet sich die Tür.
    „Da seid ihr ja endlich! Die Kollegen haben gesagt, dass ihr hier aufkreuzen werdet, aber ehrlich gesagt, hätte ich euch früher erwartet“, begrüßt uns ein Mann.
    Er ist ungefähr Mitte zwanzig und sieht ziemlich muskulös aus. Zu seinem Trainingsanzug trägt er Badeschlappen. So ähnlich hatte ich mir einen Mafiaboss nach Dienstschluss vorgestellt, nur ein Detail passt nicht so ganz. An der Garderobe hinter ihm hängt eine Polizeiuniform ordentlich auf einem Kleiderhaken.
    „Die Kollegen werden gleich da sein, um euch wieder nach Hause zu bringen. Bis dahin können wir uns unterhalten, Schwesterherz“, sagt Mels Bruder und legt ihr eine Hand auf die Schulter.
    Das ist eine Falle.
    Wir sind in eine Falle gelaufen.
    Mels Bruder ist gar kein Mafiaboss. Der ist Polizist!
    Ohne nachzudenken, ziehe ich die Seifenpistole, die seit dem Apotheken-Einbruch in meinem Hosenbund steckt. Ich richte sie auf Mels Bruder und brülle: „Zurück in den Aufzug, Mel! Lauf!“
    So müssen sich Wyatt Earp und Doc Holliday unmittelbar vor ihrer berühmten Schießerei 1881 in Tombstone, Arizona, gefühlt haben. Am Ende waren die meisten ihrer Gegner tot, Holliday angeschossen und nur Earp unverletzt.
    Aber so weit kommt es hier im Flur gar nicht. Mels Bruder nimmt mir einfach die Waffe aus der Hand. Ich komme mir vor wie ein kleiner Junge, der im Park mit einem Ast herumläuft und laut „Peng! Peng! Du bist tot!“ ruft.
    „Du kannst hier warten“, sagt er und schiebt mich in sein Badezimmer, wo er mir die Pistole zurückgibt. „Da könntest du dich mit deiner Knarre waschen. Du hast es dringend nötig.“
    Ich kann hören, wie er von außen abschließt, und dann zu Mel sagt: „Und wir beide unterhalten uns in aller Ruhe in der Küche.“
    Sie reden ungefähr eine Stunde. Eine Stunde, in der ich auf dem Klodeckel sitze, die Kacheln auf dem Fußboden zähle und mich frage,
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