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Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)

Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)

Titel: Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
Autoren: Jakob Arjouni
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    Marieke war sechzehn und nach den Worten ihrer Mutter »sehr talentiert, belesen, politisch engagiert, neugierig, voller Humor – einfach eine tolle, junge, intelligente Person, verstehen Sie? Keine Rumhängerin, keine Computersüchtige und sonst nur Shoppen und Ist-das-Leben-öd. Im Gegenteil: Klassensprecherin, Mitglied bei Greenpeace, malt wunderschön, interessiert sich für moderne Kunst, spielt Klavier und Tennis – oder hat jedenfalls gespielt…«
    Die Mutter sah kurz zu Boden und strich sich mit ihren rotlackierten Fingernägeln eine blonde Strähne aus der Stirn.
    »Wie das eben so ist, nicht wahr? Vor zwei Jahren kamen plötzlich neue Interessen dazu. Marieke war wohl das, was man frühreif nennt. Mit vierzehn hatte sie ihren ersten Freund. Jack oder Jeff oder so was, ein Amerikaner, Diplomatenkind, er ging in die Klasse über ihr. Irgendwann war’s dann ein anderer Junge und so weiter. Marieke wurde ein ziemlicher Feger, wenn Sie wissen, was ich meine.«
    Ich wusste, was sie meinte. Allerdings nicht wegen der Fotos von Marieke, die ich in der Hand hielt. Die zeigten ein leicht dunkelhäutiges, streng durch eine viereckige schwarze Designerbrille blickendes Mädchen mit blonden Rastazöpfen, das bemüht und ein wenig herablassend in die Kamera lächelte. Hübsch, möglicherweise charmant, vielleicht süß, wenn sie die Brille abnahm und freundlich gucken mochte, aber sicher nicht das, was man einen Feger nannte. Eher einen Besen. Die Anführerin eines Schulstreiks oder die Sängerin einer Popband, die Texte gegen Tierversuche sang.
    Was die Mutter meinte, traf auf sie selbst zu. Sie war das, was man einen Feger nennt. Auf den zweiten Blick. Auf den ersten war sie einfach nur eine dieser sportlichen Solarium-Blondinen, deren Körper aus hellbraunem Hartgummi gegossen zu sein schien: eine kleine spitze Nase, volle, für ein Werk der Natur vielleicht etwas zu volle Lippen und zu fadendünnen Halbkreisen gezupfte Augenbrauen, um die Augen größer wirken zu lassen. Sie waren tatsächlich eher schmal, aber daran änderten auch die gezupften Brauen nichts, und sowieso ging es bei ihren Augen nicht um die Größe. Was aus Valerie de Chavannes einen Feger machte, war der Himmel und Hölle versprechende blaue Stahl in den Augen, mit dem sie einen so unverschämt direkt und verschlagen anblitzte, als hauchte sie einem ins Ohr: Ich denke immer nur ans eine! Natürlich – oder jedenfalls höchstvermutlich – dachte sie an dem Morgen an das eine eher nicht, schließlich wollte sie mich beauftragen, ihre verschwundene Tochter zu suchen. Aber in irgendeiner Phase ihres Lebens musste ihr diese Art zu gucken zur Gewohnheit geworden sein.
    Als sie mir eine halbe Stunde zuvor die Tür zu der Villa in der oberen Zeppelinallee geöffnet und sich nicht gleich mit Namen vorgestellt hatte, war ich ziemlich sicher gewesen, dass es sich bei ihr um Besuch handelte: die verlotterte jüngere Schwester oder eine aufdringliche Tennisclubbekanntschaft, die gerade unangemeldet hereingeplatzt war, um den neuesten Umkleidekabinen-Klatsch loszuwerden. Zu ihrem Ich-denke-immer-nur-ans-eine-Blick trug Valerie de Chavannes lange, weit ausgestellte, weiße, sehr durchsichtige Seidenhosen, durch die sich ihre schlanken Beine und ein weißer Slip deutlich abzeichneten, silberne Sandalen mit ungefähr zwanzig Zentimeter hohen Plateausohlen aus Kork und ein enges, für eine Dame der gehobenen Frankfurter Gesellschaft bemerkenswert ballermannkurzes gelbes T-Shirt, das wenig Geheimnis um ihren kleinen, festen Busen machte und so viel Haut bis zum Hosenbund frei ließ, dass das Mittelstück einer tätowierten Schlange zu sehen war. Eine Frau mit dem Namen Valerie de Chavannes, Tochter eines französischen Bankiers, verheiratet mit dem international erfolgreichen holländischen Maler Edgar Hasselbaink, Bewohnerin einer Fünfhundert-Quadratmeter-Villa mit Garten und Tiefgarage mitten im Frankfurter Diplomatenviertel hatte ich mir anders vorgestellt.
    Inzwischen saßen wir uns im sonnendurchfluteten, mit weißem Teppichboden ausgelegten, moderner Kunst behängten und wertvollen Möbeln eingerichteten, fast das gesamte Erdgeschoss einnehmenden Wohnzimmer in Sesselwerken aus Leder, Chrom und Tierfellimitat gegenüber und nippten an Porzellanschalen mit grünem Tee, den uns eine ungefähr fünfzigjährige Haushälterin mit polnischem Akzent serviert hatte. Die für mich drängende Frage war: Schlängelte sich die Schlange von ihrer Scham Richtung
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