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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter
Autoren: Waris Dirie
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das Lied gefiel, aber alle Frauen sangen es, was sollte er also machen? Wenn die Kamele beladen waren, lief meine Familie die ganze Nacht und fast den ganzen nächsten Tag hindurch. Mein Stamm reitet nicht auf Kamelen. Nur ein Säugling, ein alter oder kranker Mensch reist auf dem Rücken eines Kamels.
    Jetzt musste ich mich entscheiden. Entweder zog ich aus, oder ich bot Dana die Stirn und wartete ab, wer von uns beiden den längeren Atem hatte. Ich ging in mein Arbeitszimmer, setzte mich und holte tief Luft, um mich zu beruhigen. Das war meine Wohnung; ich bezahlte jeden Monat die Miete und die Nebenkosten.
    In Somalia werden Beschwerden unter den beteiligten Männern besprochen und geregelt. Es gibt keinen Anführer, jeder Mann bekommt die Gelegenheit, etwas zu sagen. Frauen gehören nicht zum Stamm des Mannes; deshalb werden sie von ihren Brüdern oder anderen männlichen Verwandten vertreten, wenn sie in einen Streit verwickelt sind. Als meine Mutter meinen Vater heiratete, wurde sie dadurch kein Mitglied der Darod, sondern gehörte weiterhin zu den Howiye. Die Männer versammeln sich unter einem großen Baum und sprechen so lange über das jeweilige Problem, bis sie zu einer Lösung gekommen sind, mit der jeder zufrieden ist.
    Aber ich lebte nicht mehr in Somalia, ich lebte in Brooklyn, wo ich Rechte hatte.
    Mein Name stand jedoch nicht auf dem Mietvertrag, sondern seiner; also konnte ich ihn nicht zum Auszug zwingen. Als ich die Wohnung gefunden hatte, stand ich kurz vor der Niederkunft mit Aleeke, und ich wollte nach Omaha fliegen, um das Baby in der Nähe von Danas Familie zu bekommen. Die juristischen Formulierungen in dem Schriftstück machten mich damals nervös, weil sie so schwer zu lesen waren und ich sowieso nicht wusste, was sie bedeuteten. Also sagte ich: »Dana, kümmere du dich bitte um den Papierkram!« So blieb er mit meinen Schecks da und traf sich mit dem Hauswirt, um die Wohnung für uns zu mieten.
    Wie ein geschlagener Zebrahengst stieg ich wieder die Treppe hinauf. Der unterlegene Hengst muss ja auch allein und blutig davonziehen.
    Für Nomaden ist ein Haus äußerst wichtig, weil sich unsere Umgebung häufig ändert; aber jetzt sah ich mich in der Wohnung um mit dem Gedanken, was soll's? Hier wird meine Seele ohnehin nicht gelabt! Ich konnte nicht mit einem toten Geist, einem trockenen Wasserloch, einem leeren Brunnen leben. Es galt weiterzuziehen; das Gras war abgefressen und der Ort voller
djinns
. Überall richteten sie Schaden an.
    Ich wusste, dass auch ich mich ändern musste – dass ich ein Teil des Problems war –, aber ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich war schon immer misstrauisch gegenüber Männern gewesen, nicht nur wegen meines Vaters, sondern auch wegen verschiedener Dinge, die mir zugestoßen sind. Viele Begegnungen mit Männern in meinem Leben waren grässlich, und seitdem bin ich auf der Hut und wachsam. Ich glaubte, mit Dana würde es anders sein, weil er so süß und schüchtern war, als wir uns kennen lernten; aber letztendlich stellte sich auch bei ihm heraus, dass er mich für viel zu selbstverständlich hielt. Und ich hatte geglaubt, all die faulen Männer, die ihre Frauen für sich schuften lassen, in Somalia gelassen zu haben. Aber im Westen ist es nicht viel anders. Zu viele Männer haben mich ausgenutzt oder mir noch Schlimmeres angetan.
    Als ich noch jung war, wohnte einer meiner Onkel bei uns. Er war kleiner als mein Vater, deshalb nannten wir ihn Kleiner Onkel. In der Dürrezeit blieb er bei meiner Familie und ging erst, wenn die
gu
-Regen einsetzten. Er kam aus Gelkayo, wo er sich mit einem Mann aus einer anderen Familie gestritten hatte. Kleiner Onkel hatte ein Messer und schnitt dem anderen Mann fast den Arm ab. Alle in der Familie sind verantwortlich, wenn Blut geflossen ist; deshalb bezahlten unsere Familienangehörigen den
diya
-Preis, um den Streit beizulegen. Sie schickten Kleinen Onkel zu uns in die Wüste, bis die Sache ein wenig in Vergessenheit geraten sein würde.
    Kleiner Onkel war lustig und neckte mich immer. Er streckte seine langen Arme aus und packte mich heimlich an meinem
guntino
, wenn ich vorbeiging. Dabei blickte er mir direkt in die Augen. Ich hatte das gern und hielt ihn für jemand ganz Besonderen. Eines Abends sagte er: »Waris, soll ich dich begleiten und dir mit den Ziegen helfen?« Ich war geschmeichelt, weil er solches Interesse an mir zeigte – an einem kleinen Mädchen!
    Halimo warnte mich: »Trau ihm
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