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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter
Autoren: Waris Dirie
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steckte in seinem Leib. Ich sah zu, wie der Mann das arme Ding am Hang entlang hinter sich herzerrte. Plötzlich brach es zusammen. Er schrie und brüllte es an, es solle wieder aufstehen. Wild schlug er mit einem Stock auf seinen Bauch ein, aber das Kamel lag nur heftig zuckend im Sand. Ich glaubte zu erkennen, dass es eine
hahl
, ein schwangeres Weibchen war, ein wertvolles Tier. Der Mann setzte sich hin und barg den Kopf in den Händen. Es überraschte mich, einen erwachsenen Mann im Schmutz sitzen zu sehen. Nomaden bleiben immer stehen, und wenn sie sich ausruhen, heben sie einen Fuß an den anderen Schenkel und hängen die Arme über einen Stock über den Schultern. Manchmal hocken wir Frauen uns hin, aber Männer sitzen niemals auf der Erde. Auch geschlagen hatte hier noch keiner ein Kamel. In meiner Familie erachtete man Kamele als wertvoll. Mein Vater und meine Onkel waren streng mit unserer Herde; aber sie schlugen die Tiere nur wegen Eigensinn und Ungehorsam. Kamele können gemein sein, und ich hatte früh gelernt, mich vor ihren Tritten und Bissen in Acht zu nehmen.
    Ich versteckte mich, damit er nicht merkte, dass ich ihn beobachtete. Vielleicht würde er auch mich schlagen. Am liebsten wäre ich nach Hause gerannt und hätte es meiner Mutter erzählt; aber ich wagte es nicht, die Ziegen allein zu lassen. Mein Vater würde außer sich sein vor Wut und mich verprügeln, wenn die Tiere davonliefen oder eine Hyäne sich eins schnappte. Also stand ich still wie eine Babygazelle hinter einem Busch und wagte kaum zu atmen.
    Schließlich hörte die
hahl
auf zu zittern. Sie blickte sich einen Moment um und schien erst jetzt zu merken, dass sie auf dem Boden lag. Zuckend zog sie ihre Beine unter den Bauch und erhob sich. Zwar war sie so anmutig wie die meisten Kamele, aber Schaum und Geifer tropften ihr aus dem Maul. Auch der Fremde stand auf – fast so, als hätte er das schon viele Male mitgemacht – und zerrte sie weiter. Sie schleppten sich den
tuug
hinunter und an der anderen Seite wieder hoch, auf unser Lager zu. Bestimmt machte er sich große Sorgen um sein krankes Kamel; denn wenn es starb, würde er das Fohlen auch verlieren.
    Länger als ich denken konnte, war es heiß und trocken gewesen. Ich wusste, dass meine Eltern sich Sorgen machten, obwohl sie nichts sagten. Wir hatten nicht viel Wasser, weil auch die Wasserlöcher im
tuug
immer mehr austrockneten. Schon ein paar Mal waren wir weitergezogen, um Wasser für die Tiere zu finden. In der Nacht war ein neu geborenes Kamelfohlen gestorben. Mein jüngerer Bruder, den wir Alter Mann nannten, weil seine Haare sehr früh weiß wurden, hatte es am Morgen gefunden. Alter Mann schien immer alles vor den anderen zu wissen, obwohl er noch so klein war. Mein Vater stubste das winzige Ding an, das nur aus Beinen und Hals bestand, und blickte zum wolkenlosen Himmel. Wenn es trocken war, sah er immer zum Himmel und betete zu Allah um Regen. Wir konnten das Fleisch nicht essen – weil es für uns als Muslime unrein ist, ein Tier zu essen, das nicht auf die richtige Art geschlachtet wurde. Die Geier kreisten schon so niedrig, dass ihre langen Flügel Schatten warfen, wenn sie über unsere Köpfe flogen. Ich erinnere mich noch gut an das Geräusch des heißen Windes und das leise Murmeln meiner Mutter, die betete.
    Meine Mutter versäumte ihre täglichen Gebete nie, ganz gleich, wie verzweifelt die Lage war. Wenn man krank ist, muss man nur dreimal am Tag beten statt fünfmal, und man muss sich auch nicht zu Boden werfen; aber meine Mutter betete unbeirrt immer fünfmal. Bevor Moslems beten, waschen sie sich, damit sie sauber und rein sind, wenn sie mit Gott sprechen.
Allah, möge diese Waschung meine Seele reinigen...
Wir hatten kaum genug Wasser, um am Leben zu bleiben oder die Tiere zu tränken, also gab es keines zum Waschen. Wenn Mama kein Wasser fand, wusch sie sich mit Sand. Fünfmal am Tag grub sie den Sand unter einem Busch aus, an einer Stelle, über die noch niemand gelaufen war. Sie wusch sich damit die Hände wie mit Wasser, rieb es sich durchs Gesicht und über die Füße. Dann rollte sie ihre gewebte Gebetsmatte nach Osten aus, in Richtung der heiligen Stadt Mekka, kniete nieder und betete.
Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet...
Da wir keine Uhr besaßen, teilten wir die Zeit durch die täglichen fünf Gebete ein.
    Wenn meine Mutter mit ihrer religiösen Verrichtung fertig war, rollte sie ihre Matte wieder ein und legte sie
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