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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter
Autoren: Waris Dirie
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Vertretung.
    Auch der Angestellte der Fluggesellschaft wusste nicht, ob Flugverbindungen nach Somalia bestanden. »Ich habe keine Ahnung, wie Sie da hingelangen sollen«, sagte er zu mir. »Wir bieten so etwas nicht an – und andere Gesellschaften auch nicht.« Er erklärte mir dann, ich müsse mich gegen Gelbfieber, Pocken, Typhus, Hepatitis B und Polio impfen lassen, wenn ich nach Afrika fliegen wolle. Vom Monitor seines Computers las er ab: »Kürzlich hat es Fälle von Pockenerkrankungen in Somalia gegeben. Und Sie müssen Prophylaxe gegen Malaria betreiben.« Alles war so entmutigend, dass ich ihm nicht einmal meinen Pass zeigte. Meine britischen Reisepapiere untersagten es mir ausdrücklich, nach Somalia zu reisen. Als sie in London ausgestellt wurden, wollte man die Verantwortung für einen britischen Bürger in Somalia nicht übernehmen. »Wie wäre es denn mit einer netten Insel in der Karibik?«, schlug der Angestellte der Fluggesellschaft vor. »Fahren Sie ein paar Tage in Urlaub, und entspannen Sie sich.« Ich wollte nicht in Urlaub, ich wollte meine Familie wiederfinden.
    Schließlich rief ich Leute bei den Vereinten Nationen an, die ich kannte. Sie erklärten mir, Somalia sei insgesamt viel zu gefährlich. Sie meinten, ich bräuchte überall eine bewaffnete Eskorte, und rieten mir, ich solle mir Bodyguards und ein gepanzertes Fahrzeug besorgen. Sie gaben zu bedenken, fundamentalistische Moslemgruppen könnten mich angreifen oder wegen meiner öffentlich geäußerten Einstellung zur weiblichen Beschneidung entführen.
    Mutlos fuhr ich in meine Wohnung zurück. Wie gewöhnlich war es dort mal wieder schmutzig und unaufgeräumt. Ich war die Mutter, die Köchin, kaufte ein, machte sauber und arbeitete für unseren Lebensunterhalt. Der Abfalleimer in der Küche quoll über von Essensresten und Schachteln. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr, und auf dem Küchentisch standen die Reste einer großen Pizza. Ich hasste es, wenn Lebensmittel so verschwendet wurden. Als ich ein Kind war, gab es nicht jeden Tag etwas zu essen. Einmal hatte mein Bruder seine Kamelmilch schon ausgetrunken und griff nach meiner. Ich schob seinen Arm weg, und er stieß mich so fest vor die Brust, dass ich hintenüber fiel und die Milch verschüttete. Die köstliche Milch versickerte im Boden und war verloren. Man konnte sie nicht wieder auflecken. Das Einzige, was ich danach noch trinken konnte, waren meine Tränen.
    Den Wasserhahn in der Küche hatte jemand nicht richtig zugedreht, und er tropfte. Ich werde nie verstehen, wie man Wasser einfach so verschwenden kann. In meiner Kindheit war Wasser so kostbar, dass wir keinen einzigen Tropfen vergeudeten. Nach wie vor bringe ich es nicht fertig, das Wasser laufen zu lassen, wenn ich mir die Zähne putze oder Geschirr spüle. Für mich ist das eine Frage des Respekts; Respekt vor den Segnungen dieses Elements. Während ich weg war, hatte niemand das Fenster geöffnet, und es brannte auch kein Räucherstäbchen, um die Luft ein wenig frischer zu machen. Weihrauch und Myrrhe kommen aus Somalia, und wir verbrennen sie immer, wenn wir einen Gast, eine Braut oder ein Neugeborenes willkommen heißen wollen. Wenn der Mann von einer Reise zurückkehrt, dann stellt sich die Frau vor das kleine Kohlebecken und nimmt den Duft mit ihren Kleidern und Haaren auf.
    Von meinem Aufenthalt in Los Angeles kehrte ich also in eine leere, schmutzige Wohnung zurück. Dana war ausgegangen, und Aleeke war bei seiner Großmutter. Ich hob die Post und die Rechnungen vom Boden auf, um nachzusehen, was dringend bezahlt werden musste, damit es keine Schwierigkeiten gab. Das Haus war voll von
djinns
und Problemen. Als Dana dann zurückkam, hatten wir einen riesigen Streit, und es kam zum endgültigen Bruch. »Verschwinde hier, du bist nicht erwünscht!«, kreischte ich zum Schluss. Dann ging ich zu Freunden, um ein Bier zu trinken und mich ein bisschen zu beruhigen. Alkohol ist Muslimen streng verboten, und meine Mutter hat ihn auch nie angerührt. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich trank – aber zuerst hatte ich meine Familie in Somalia verloren und jetzt auch noch meinen Partner im Westen.
    In Somalia versucht ein Paar zunächst, zusammenzubleiben, zum Wohl der beteiligten Stämme. Frauen können sich erst recht nicht so einfach scheiden lassen wie Männer. Die Männer bestimmen, wann eine Ehe vorbei ist; die Frau kann ihre Kinder verlieren und muss betteln gehen, um sich über Wasser zu halten. Ein
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