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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter
Autoren: Waris Dirie
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schlechten Ehemann bekam. Sie brachte mir das folgende Lied bei:
Du bist es, die in die dunkle Nacht hinausgeht,
    um einen schlecht gewählten Ehemann zu nehmen,
    der dich mit dem Schäferstab züchtigt.
    Und es ist dein Schleier, der unter den Schlägen zerreißt.
    Jetzt, wo ich allein und betrunken mit all den Teufeln um mich herum in dem Hotelzimmer saß, hatte ich furchtbare Sehnsucht nach meiner Mutter. Ich wusste, dass sie mir würde helfen können. Nachdem ich meinen Sohn Aleeke zur Welt gebracht hatte, sehnte ich mich schmerzlich nach meiner Mutter, nach ihrer Umarmung und ihrer Stimme, die leise in mein Ohr flüsterte: »Es wird alles gut.« Egal, was du alles erlebt hast und wie schwierig dein Lebensweg auch sein mag – du willst deine Mutter um dich haben, wenn du selbst Mutter geworden bist. Immer wenn ich meinen kleinen Aleeke im Arm hielt, der jetzt vier Jahre alt ist, vermisste ich meine Heimat Afrika und meine Mutter, die ein Teil davon ist.
    Meine Mutter glaubt mit jeder Faser ihres Herzens an Allah. Sie kann ohne Allah weder atmen noch irgendetwas tun. Sie kann kein Korn mahlen noch die Ziegen melken, ohne ihrem Gott dafür zu danken. So wurde auch ich erzogen, und dafür liebe ich sie. Durch das Leben in der westlichen Welt habe ich das Gefühl dafür verloren, bei jedem Schritt mit meinem Gott in Verbindung zu stehen. Mehr und mehr befürchtete ich nun, alles zu verlieren, wenn ich nicht in die Heimat meiner Seele, in die Wüste, zurückkehrte.
    Der Name Waris bedeutet im Somalischen »Wüstenblume«. Die ovalen Blütenblätter der Wüstenblume sind hell orangefarben, und die kleinen Sträucher wachsen ganz flach, um sich in der Erde Allahs mit den Wurzeln festzuklammern. In Somalia vergeht manchmal ein ganzes Jahr zwischen zwei Regenzeiten, und dennoch bleibt die Pflanze irgendwie am Leben.
    Wenn die Regenzeit endlich einsetzt, sieht man am nächsten Tag überall Blumen. Sie tauchen wie Schmetterlinge aus den Rissen in der Erde auf. Diese zarten kleine Blüten überziehen die Wüste, in der sonst fast nichts gedeiht. Einmal hatte ich meine Mutter gefragt: »Warum hast du mich so genannt?«
    Meine Mutter antwortete scherzhaft: »Wahrscheinlich, weil du etwas Besonderes bist.«
    Ich glaube, mein Name weist darauf hin, dass ich überlebensfähig bin – wie eine Wüstenblume. Das sagt mir auch meine Seele. Manchmal habe ich nach all meinem Kummer und Leid das Gefühl, hundertdreißig Jahre alt zu sein – oder sogar noch älter. Ich weiß, dass ich einfach auf der Welt sein
muss
, und ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass es mir grundsätzlich gelingen wird zu überleben. Warum meine Mutter gerade für mich den Namen der Wüstenblume gewählt hat, ist mir ein Rätsel. Aber er passt perfekt zu mir.
    Wenn man in Somalia aufwächst, kennt man das Gefühl, aufzustehen und zu gehen, obwohl man keine Kraft hat. Und das tat ich jetzt auch. Ich schlüpfte aus dem Bett und ging los. Auf einmal war es wichtig, meine Mutter zu finden... doch wie? Meine Familie wiederzusehen erschien mir beinahe so unmöglich wie die Tatsache, dass aus dem Kamelmädchen ein Model geworden war.
Eine Frau ohne Familie muss mit ihren Kindern auf dem Rücken tanzen.
    (Somalisches Sprichwort)

2

Allein

    Der Mann im Reisebüro in New York blickte mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. Meine Freunde sagten: »Hast du keine Zeitung gelesen? Mogadischu ist Kriegsgebiet.« Dana lehnte es rundweg ab, eine solche Reise auch nur in Betracht zu ziehen. Er wollte, dass seine Band berühmt wurde, und arbeitete die ganze Zeit über an seiner Musik. Ich wünschte mir verzweifelt, einmal wieder heimzukehren; aber niemand in New York unterstützte oder bestärkte mich in dieser Idee. »Rufen Sie besser beim Außenministerium an, und fragen Sie, ob es überhaupt sicher ist, dorthin zu fliegen«, sagte der Mann im Reisebüro. »Wussten Sie, dass Somalia eins der gefährlichsten Länder auf der Welt ist?« In einem Buch, in dem die schlimmsten Orte weltweit aufgelistet sind, las ich schreckliche Warnungen:
Die Regierung der Vereinigten Staaten warnt vor Reisen nach Somalia. Stammesfehden können unvermittelt aufflammen. Es wird häufig von Entführungen, Vergewaltigungen und Morden berichtet. Eine nationale Regierung oder polizeilicher Schutz existieren nicht. Die nördliche Region, die selbst ernannte Republik von Somalia, die es seit 1991 gibt, ist weniger gefährlich, aber es gibt im ganzen Land keine diplomatische
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