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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter
Autoren: Waris Dirie
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Solange es Frauen wie Assia gibt, darf man zuversichtlich sein.
    Mohammed ist so groß, dass ich für einen seiner Schritte zwei machen musste. Als wir durch die Stadt zu unserem Hotel zurücksprinteten, kam ich kaum mit ihm mit – vor allem, weil mich das lange Kleid beim Gehen behinderte. Also hielt ich es hoch, um ihm nachzueilen. Daraufhin sagten zwei Frauen, die auf einer Treppe saßen: »Sieh dir die an! Sie hat sich das Kleid bis über die Taille hochgezogen!«
    »Sie kann keine Somali sein! So wie die läuft!«
    Als wir an diesem Abend essen gingen, hängte ich mir meine Kamera um, damit ich ein paar Fotos von der Stadt und den verschiedenen UN-Projekten machen konnte. Nach dem Essen sah ich ein Plakat mit wunderschönen Frauen und einer Landkarte. Es gefiel mir so gut, dass ich meinen Apparat zückte und es fotografierte. Plötzlich traf mich ein großer Stein am Oberschenkel. Ich zuckte vor Schmerz zusammen, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie eine Karre voller Wasserflaschen umfiel, sodass viel Glas auf der Straße zersplitterte. Der Junge, der den Stein geworfen hatte, war offenbar mit seinem Arm an die Karre gestoßen. Ich wartete gar nicht erst ab, was weiter geschah, sondern rannte ins Auto zu meinem Bruder.
    »Jemand hat einen Stein nach mir geworfen!«, schrie ich aufgebracht.
    Mohammed säuberte sich gerade die Zähne mit einem Zahnstock und warf mir kopfschüttelnd einen Blick zu. Freundlich wie immer meinte er: »Sie hätten besser auf dich geschossen!«
    »Du Bastard! Wenn ich nun ernsthaft verletzt worden wäre?«
    »Waris, ich habe dich immer wieder ermahnt, nicht zu fotografieren. Sie bringen dich um! Manche Leute hier glauben tatsächlich, dass man ihnen mit einem Foto die Seele raubt. So denken sie eben vom Fotografieren, kleine Schwester! Es ist nicht gegen dich persönlich gerichtet. Ich würde auch so reagieren, wenn mir eine fremde Frau die Kamera vor die Nase hielte.«
    An diesem Abend saßen ein paar Frauen in der Hotellobby und tranken Tee. Wir kamen ins Gespräch, und eine elegante Dame sagte, sie seien auch Somali. Sie meinte: »Wissen Sie, Sie erinnern mich an eine Person im Fernsehen!«
    Ich überlegte, wo sie wohl Fernsehen haben mochte, und fragte: »Wo kommen Sie her?«
    »Aus Schweden. Ich lebe dort.«
    »Und da ist eine somalische Frau im schwedischen Fernsehen aufgetreten?«
    »Ja, aber ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern. Auch in Deutschland war sie zu sehen.«
    »Oh«, sagte ich nur. »Und was tut diese Frau?«
    »Sie spricht über Klitorisbeschneidung.«
    »Was halten Sie denn davon?«, erkundigte ich mich leise.
    »Ich finde, es ist an der Zeit, dass jemand endlich einmal das Thema aufgreift. Ich bin sehr stolz auf diese Somali-Frau«, erwiderte sie mit blitzenden Augen. »Wir reden ja nicht darüber. Aber sie ist so mutig, ich liebe sie dafür! Sie flößt uns allen Mut und die Hoffnung ein, dass sich endlich etwas verändert.«
    »Wissen Sie noch ihren Namen?«, fragte ich.
    »Ich glaube, sie heißt Waris«, erwiderte sie. »Sie sind es ganz bestimmt nicht?«
    »Nein, so mutig bin ich nicht«, sagte ich mit gesenktem Kopf. Ich schämte mich, weil ich so feige gewesen war. Warum hatte ich eigentlich Angst davor gehabt, nach Somalia zurückzukehren? Warum hatte ich gedacht, sie würden mich umbringen? Meine Landsleute kannten und liebten mich. Ich glaubte jedem, der mir in New York riet: »Fahr nicht dahin! Fahr nicht nach Somalia, es ist zu gefährlich.« Ich stellte ihre Warnungen nie in Frage, dachte nie, ich kenne doch mein Volk, warum sollten sie mir etwas antun? Und ich glaubte auch den Nachrichten, die verkündeten, Somalia sei Kriegsgebiet. Aber als ich dann doch endlich herkam, empfand ich keine einzige Minute mehr Angst. Von allen Seiten wurde ich herzlich willkommen geheißen, und die Leute wollten mir alles zeigen und mir den Aufenthalt so schön wie möglich machen. Vielleicht gibt es ja irgendwo einen verrückten Stamm, aber ich wurde nicht von Soldaten im
khat
-Rausch mit Gewehren bedroht. Ich erlebte mein Land als wunderschön und mein Volk als liebenswert.
    Es ist einfach, in der Öffentlichkeit über etwas Fernliegendes zu sprechen. Vor einem Saal voller Fremder fällt es einem nicht schwer, die Klitorisbeschneidung zu erörtern. Aber es erfordert Mut, die Missbilligung der eigenen Familie zu riskieren und die Meinung einer Person in Erfahrung zu bringen, die vor einem steht. Im Westen über Klitorisbeschneidung zu sprechen war leicht –
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