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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter
Autoren: Waris Dirie
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schreiben; deshalb hatte es ohnehin keinen Sinn, einen Brief zu schicken, geschweige denn ein Fax oder eine E-Mail. Mein armes kleines Land ist technologisch nicht auf der Höhe, es hat sich eher zurückentwickelt.
    Ich war eine Person ohne Angehörige – so gut wie tot.
Das Glück reitet auf Gottes Flügeln,
    Ein gutes Omen ist in Sicht,
    Sei ruhig, mein Sohn, und verzweifle nicht!
    (Somalisches Lied)

3

Buschtelefon

    Eines trüben Nachmittags klingelte das Telefon, und ich nahm ganz mechanisch den Hörer ab. Ich hatte einfach so ein Gefühl. Es war jemand, der für Oprah Winfrey, den Fernsehstar, anrief. Sie ist eine tüchtige Geschäftsfrau, und davor habe ich großen Respekt.
    »Wir stellen gerade ein Programm für eine Sendung über Gewalt gegen Frauen auf der ganzen Welt zusammen«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Wir hätten Sie gerne in der Sendung, weil es teilweise auch um Mitstreiterinnen geht.«
    »Soll ich über Genitalverstümmelung an Frauen sprechen?«
    »Das wird natürlich eines der Themen sein«, teilte die Frau mir mit, »aber dazu wird Calista Flockhart Frauen in Afrika interviewen.«
    »Calista Flockhart?«, wiederholte ich.
    »Das ist die Schauspielerin, die im Fernsehen Allie McBeal spielt.«
    »Oh«, sagte ich nur, dachte aber insgeheim, was weiß die schon über Beschneidung?
    Wenn es nicht gerade um Genitalverstümmelung an Frauen ging, konnte ich mir nicht vorstellen, was Oprah von mir wissen wollte.
    »Wir hätten gerne, dass Sie den Part
Entdecke deine Seele
 übernehmen.«
    »Seele?«, fragte ich. »Nicht Genitalverstümmelung an Frauen?« Ich konnte es nicht begreifen – einem Elefanten ähnlich, der versucht, seinen Schwanz zu sehen.
    »Ja«, erwiderte die Frau, »wir glauben, dass Sie perfekt dafür wären.«
    Ich war vollkommen verblüfft, dass sie von mir nichts über die Verstümmelung der weiblichen Genitalien hören wollten. Ich war wie ein Milchkorb in der Dürre, ausgetrocknet und leer. Warum wollte Oprah unbedingt, dass ich über die Seele sprach, während ein weißes Mädchen, das nie beschnitten worden war, über Genitalverstümmelung an Frauen reden sollte? Was für eine Seele sollte ich denn entdecken. Alles schien mir doch wie Salz durch die Finger zu rinnen. Ich sagte der Person, ich würde darüber nachdenken und sie wieder anrufen. In meinem Herzen und Kopf häuften sich die Probleme, die ich anscheinend nicht lösen konnte.
    In der gleichen Woche weckte mich früh am Morgen wieder das schrille Läuten des Telefons. Ich blickte zu dem Wecker auf meinem Nachttisch. Fünf Uhr! Vor lauter Verschlafenheit kam ich nicht darauf, was das wirklich bedeutete. Vielleicht war es ja erst vier Uhr, wenn auf dem Wecker fünf stand.
    Ein Freund hatte mir erklärt, dass die Zeit geändert würde, um das Tageslicht auszunutzen, aber ich bekam es nicht auf die Reihe – vor allem nicht im Halbschlaf.
    »Und warum müssen wir die Uhr umstellen?«, fragte ich ihn. »Wie kann man denn die Zeit ändern?«
    »Im Herbst wird sie eine Stunde zurückgestellt und im Frühling eine Stunde vor«, erläuterte er. »Im Herbst stellst du sie zurück, weil die Sonne immer später aufgeht, und wir wollen, dass die Uhrzeit dem Sonnenaufgang entspricht.«
    »Warum steht ihr dann nicht einfach jeweils bei Tagesanbruch auf?« In Somalia gab es solche Gedankengänge nicht, wir organisieren nicht einfach die Zeit um. In der Nähe des Äquators geht die Sonne das ganze Jahr über ungefähr zur gleichen Zeit auf, und wie lange es dann bis zu ihrem Untergang dauert, kann man an den länger werdenden Schatten ablesen. Was hatten Uhren mit der Sonne zu tun? In westlichen Städten gibt es so viele Lampen, dass es doch gar keinen Unterschied macht, ob es Tag oder Nacht ist; die meiste Zeit ist es außerdem so bewölkt, dass man die Sonne sowieso nicht sieht. In Somalia bestimmte die Sonne unser Leben. Wenn es dunkel war, ging man zu Bett, und in der Morgendämmerung stand man auf. Der Freund nannte als Beispiel Farmer in Michigan, die aufstehen müssen, um ihre Kühe zu melken. Ziegen erwachen, wenn die Sonne aufgeht, warum machen die Kühe in Michigan das nicht genauso?
    Ich hatte das Gefühl, der Anruf käme von irgendeinem Familienmitglied, weil sie dafür immer seltsame Tageszeiten wählten; deshalb rappelte ich mich auf und ging ans Telefon. Es war mein ältester Bruder Mohammed aus Amsterdam. »
Nihyea
, Frau«, sagte er, und mit einem Schlag wurde ich hellwach. Er brauchte Geld, und ich
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