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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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hallt.
    «Im Bauteillager für die Gespensterverliese und guten Stuben unserer Vorfahren. Ich bin hier Vizepräsident», sagt Alexander und grinst, als er Alice’ Verwirrung bemerkt. «Komm, die mag ich besonders.» Er winkt sie zu einem Regalabschnitt, auf dem Wasserspeier aufgereiht sind. Drachen, Lindwürmer, Neidköpfe, Greifschnäbel, Schlangenschlünde. «Das war noch Handwerkskunst und nicht maschinell gefertigte Massenware», sagt Alexander. «Würden sie heute noch hergestellt, sähen die Bonzenvillen noch schlimmer aus. Im Garten ionische Säulen, am Dach mittelalterliche Drachen. Womöglich», er bricht in Gelächter aus, «womöglich die gleichen Drachen, wie sie der Hausherr als Tatoo auf seinem Schulterblatt trägt.»
    Gegenüber von den Ablaufrinnen entdeckt Alice Tapeten. Eine geblümte könnte in der Wohnung ihrer Großmutter geklebt haben. Die Farbe der Tapete war erst nach Großmutters Tod zu sehen. Das Bett und der Schrank hatten das Muster vor dem Ausbleichen bewahrt. In der geräumten Wohnung waren sie zu geblümten Abzeichen ihres Lebens geworden.
    Alice hört Alexander weiter hinten umhergehen. Sie schlendert an Wirtshausschildern vorbei in seine Richtung. Es raschelt. Die Rosinenbrötchen fallen ihr ein. Dann ein Knistern, das nicht von Papier herrührt. Auf einmal hört sie eine Singstimme und Bandoneon. Carlos Gardel. Sie geht schneller. Am Ende der letzten Gasse ist der Raum bis auf einen hüfthohen Korpus mit alter Musikanlage und zwei Rosinenbrötchen darauf leer. Alexander breitet die Arme aus. «Ein Tänzchen?»
    «Gerne.»
    «Ich kann es nicht gut.»
    Sie streckt ihm ihren rechten Arm entgegen. «Ich mag dich auch, wenn du mir auf die Zehen trittst.»
    «Ich werde es konsequent tun.»
    «Jeden Tag?»
    «Wenn du magst.» Er greift nach ihrer Hand, legt den Arm an ihren Rücken. Nach ein paar Takten wiegt er sie, ohne sich von der Stelle zu rühren, von einem Bein aufs andere. Sie konzentriert sich auf den Druck seiner Arme. Er lenkt sie ein paar Schritte rückwärts, einen vorwärts, hält inne. Seine rechte Hand zieht. Was meint er? Sie dreht sich ab, lässt sich durch ein paar «Ochos vorwärts» führen, dann macht er eine «Sacada». Sie verliert einen Moment das Gleichgewicht. «Ich trage die falschen Schuhe», sagt sie. Carlos Gardel singt: «Zwanzig Jahre sind ein Nichts.»
    Am Ende des Stücks bleiben sie stehen, ohne sich voneinander zu lösen. Das Neonlicht legt harte Schatten über das Zarte in Alexanders Zügen und betont die künstliche Haarfarbe. Leise fragt er: «Was müsste ich mit dir für Kompromisse eingehen?» Sie sieht über seine Schulter an die Wand, wo sich ihr gemeinsamer Schatten abzeichnet. Zwei Köpfe, ein unförmiger Leib, vier Beine. «Du müsstest mir ab und zu das letzte Wort lassen. Und du müsstest akzeptieren, dass ich bei mir bleiben möchte», antwortet Alice. Sie spürt sein Herz und ihr eigenes.

14
    Fleur geht mit Pascal durch Alexanders Garten. «Schau, deine Verwandten», sagt Pascal und deutet auf ein Beet mit Pfingstrosen. Es dauert einen Augenblick, bis sie begreift. Früher, in der Primarschule, foppten die Knaben sie mit «Blümchen». Pascal streicht mit den Fingern über eine Blüte. «Diese Üppigkeit.»
    Auf der Hinfahrt im Tram erzählte er ihr von einem Zitat, das er zum Thema Wunder gelesen habe: «Das Wunder bringt dem Menschen zum Bewusstsein, dass er nicht weiß, was in ihm und in der Welt geschehen kann.» Sie war bei ihren Nachforschungen über Mirakelbücher auch darauf gestoßen. «Die Leute, die Votivbilder in Auftrag geben, glauben es zu wissen. Sie glauben, dass Maria Wunder wirkt, wenn man sie anbetet und ihr ein Bild verspricht», entgegnete sie. Pascal wickelte eine Haarlocke um seinen Zeigefinger. «Ein Wunder, das man erwartet, ist keines.» Sein Zeigefinger drehte und drehte.
    «Ich möchte nicht alles wissen», sagte sie.
    «Ich auch nicht. So kann man hoffen.»
    «Worauf?»
    «Als Kind hatte ich gehofft, meine Mutter würde lebendig. Ich stellte es mir so lange vor, bis ich sie an meinem Bett sitzen sah.»
    «Das mit deiner Mutter tut mir leid», sagte sie, wobei ihr «leidtun» zu schwach vorkam für sein Schicksal. Er zuckte mit den Schultern und fragte, ob Fleur auch schon Wunder herbeigesehnt habe. «Ich wünschte mir, dass meine Eltern aufhörten zu streiten und», sie lachte, «dass die Ohren des Schokoladehasen, den ich zu Ostern bekam, nachwachsen.» Beim Aussteigen bot er ihr an, das Stativ zu tragen. Sie
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