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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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    Gehört der Po zum Bein oder zum Rumpf? Alice legt den Zeichenstift ab, steht vom Küchentisch auf und stellt sich mit dem Rücken vor den Spiegel im Flur. Sie schafft es nicht, über die Schulter zu schauen. Früher konnte sie das. Sie streckt ein Bein nach hinten und dreht den Kopf so stark sie kann. Die Augen reichen noch immer nicht weit genug, dafür schmerzt der Nacken. Sie hätte es wissen müssen.
    Am Radio verstummt die Königin der Nacht, ein Dreivierteltakt setzt ein. Walzer gibt Schwung fürs Leben, hatte Alice früher zu ihren Schülerinnen und Schülern gesagt. Sie hebt die Arme, als würde jemand sie umfangen, macht Wiegeschritte. Rechts, links, rechts. Links, rechts, links. Geht das einmal nicht mehr, mag sie nicht mehr leben. Gibt es einen Tanz, der Schwung gibt zum Sterben?
    Die Musik schwillt an, Alice schwingt mit. Der Walzer könnte der Wunsch dieses Alexanders sein. Dass er sich ihren Namen gemerkt hat. Wie sagte er noch? «Sie haben letzte Woche für Alice Maag eine Polka gespielt. Die hat mir so gut gefallen, dass ich sie noch einmal hören möchte.»
    Ein Mann mit den gleichen Vorlieben. Einer, der sie nicht aus Gefälligkeit ins Konzert begleitet. Nicht wie Fritz, den klassische Musik langweilte. Kaum setzte das Orchester ein, drehte er sich nach den Zuschauerinnen und Zuschauern um, wechselte die Sitzposition, massierte sich die Hände. Alice geht wiegenden Schrittes in die Küche, stellt das Radio lauter. Trotzdem glaubte sie sich glücklich mit Fritz. Es war nicht seine Schuld, dass ihr das nicht genügte. Sie setzt sich, zeichnet der Tangotänzerin einen Rock, der Po und Beine bedeckt.
    «Die Hörerin Alice Maag hat sich vor kurzem einen Walzer von Prokofjew gewünscht. Ich hoffe, ihr gefällt auch der aus dem Rosenkavalier.»
    Alexander. Sie muss ihn kennenlernen. Sie könnte die Wunschkonzert-Moderatorin bitten, ihm einen Brief weiterzuleiten. Einem Fremden einen Brief schicken. Was soll sie schreiben? Ich habe mir immer einen Mann mit dem gleichen Musikgeschmack gewünscht. Ich bin neugierig, wie Sie aussehen. Oder: Da muss noch etwas kommen? Martin wüsste Rat. Sie sieht auf die Uhr. In Thailand ist es abends um neun, er wird noch wach sein.
    What’s love got to do with it schallt zu Fleur hinauf. Sie schließt das Fenster. Lieber ersticken. An ihren Kleidern, im Bettzeug, in ihren Haaren klebt Kuchengeruch.
    «Komm doch auch», sagte Mutter, bevor sie die Kuchen fürs Hoffest hinunterbrachte. «Babs hat sich angemeldet, die hast du doch immer gemocht.»
    «Ich habe zu tun», sagte Fleur. Mutter sah sie an, als wollte sie etwas sagen. Sie sah sie oft so an.
    Der Song durchdringt Wände und Glas. Das ist nicht ihre Musik, nicht ihr Fest. Im Hof sitzen die Nachbarn an langen Tischen, essen und tratschen. Bla, bla, bla. Während ein paar Flugstunden entfernt ein Präsident sein Volk bombardiert, tauschen die Belanglosigkeiten aus. Hartmanns prosten sich mit Bierflaschen zu, Frau Clerici isst Kuchen. Vollgestopfte Fröhlichkeit. Die würden sogar lachen, wenn Fleur einen mit Wasser gefüllten Ballon hinunterschmeißen würde, wie sie das früher mit Babs getan hatte, wenn die Buben im Hof spielten.
    Aus dem Lautsprecher plärrt Who needs a heart when a heart can be broken. Sie hält sich die Ohren zu. Raus, zum Wehr, wo der Fluss Ohren und Augen füllt. Wo sie Ruhe hat. Sie zieht eine Jacke an. Auf dem Weg zum Wehr würde sie den Nachbarn begegnen, müsste ihr «Setz dich zu uns» abwehren. Hartmanns, die ihr noch immer Floriana sagen, obwohl sie sich schon lange Fleur nennt. Frau Clerici, die sie im Treppenhaus fragt, wie es in der Schule laufe und was sie nach der Matur mache. Sie erwartet Vorfreude, Abenteuerlust. «Die Welt steht dir offen», sagt sie, «genieß es.» Wie soll sie genießen, wenn sie kein Geld hat. Wie Geld verdienen, wenn sie nicht weiß, wie Arbeiten geht. In die Welt hinaus. Sie wird schon nervös, wenn sie an einen unbekannten Ort in der Stadt fahren muss. Natürlich kann sie es kaum erwarten, die Schule los zu sein und nicht mehr wie ein Kind behandelt zu werden. Aber dann? «Mit einem Geschichts- oder Sprachstudium bist du nicht gefragt auf dem Arbeitsmarkt», sagt Mutter. Informatik, Physik und Chemie interessieren sie nicht. Das Einzige, was sie gut kann, ist fotografieren, aber das zählt nicht. Und sie weiß, was sie nicht will: für die Tabak- und die Pharmaindustrie arbeiten, in einer Bank, in einer Versicherung. Auch mit Waffen, Atomkraft und
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