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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht
Autoren: Fabio Volo
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und auf dem zusammengefalteten Bademantel zu schlafen. Außerdem müsste ich mir echt mal angewöhnen, sie gleich zu leeren, wenn ich nach Hause komme. Oft vergesse ich es, und es fällt mir erst wieder ein, wenn ich schon im Bett liege. Ich stelle mir das verschwitzte T-Shirt und den nassen Bademantel und die Badehose vor, die ich anhabe, wenn ich hinterher noch in die Sauna gehe. Dann muss ich wieder aufstehen und die Sachen aufhängen, weil ich sonst nicht ruhig schlafen kann. Ich möchte keine Champignonzucht vorfinden, wenn ich es erst am nächsten Tag mache.
    Die Frau aus der Straßenbahn machte es richtig. Sie nahm die Tasche immer mit zur Arbeit.
    An einem anderen Morgen stieg ich ein und sah sie zum ersten Mal mit Pferdeschwanz. Einem hochgesteckten Pferdeschwanz, um genau zu sein: Das finde ich wahnsinnig feminin. Hals, Ohren, der Schwung der Kieferpartie, alles war wunderbar zu sehen. Ich weiß noch, dass ich dachte: Jetzt gehe ich zu ihr und schaue sie so lange an, bis sie aufsteht und wir uns schweigend in die Augen sehen. Uns alles sagen, was wir empfinden, ohne Worte, mit einem jener intensiven Blicke, die die Seele in Aufruhr bringen. Dann küssen wir uns. Wenn sich unsere Lippen voneinander lösen, drücke ich ihr kleine Küsse auf Augen, Nase, Wangen und Stirn und den letzten auf die Lippen. Alle Leute in der Bahn schauen uns zu, und plötzlich fangen sie an zu applaudieren. Eine Musik erklingt, die Straßenbahn hält an, wir steigen aus und gehen in die Stadt. Abspann, das Licht geht an, gerührt verlassen die Leute das Kino.
    Pustekuchen. Ich hielt Distanz, wie immer. Keine Musik, kein Applaus, nur die beschlagenen Scheiben der Straßenbahn.
    Ihretwegen habe ich eine Menge unsinnige Dinge getan. Eines Tages, nachdem sie ausgestiegen war, wartete ich ein paar Sekunden, dann stand ich auf. Ich ging dorthin, wo sie gestanden hatte, und legte meine Hand auf die Stelle, wo sie sich kurz zuvor festgehalten hatte. Ich spürte noch ihre Wärme. An dem Tag brauchte ich einfach mehr, es reichte mir nicht, sie nur anzuschauen. Mein Tastsinn machte die gleichen Rechte geltend wie der Blick. Aus diesem Grund suchte ich nach einer Spur von ihr. Ihre Wärme war in diesem Moment etwas Intimes, ich spürte das Verlangen, einen kleinen Ausschnitt der Welt zu berühren, die sie zuvor berührt hatte, ich wollte der Erste sein, der diese Stelle nach ihr berührte. Aus dem gleichen Grund drückte ich auf den Halteknopf. Während ich ihre Wärme spürte, fragte ich mich: Was sind wir eigentlich? Freunde, Komplizen, Spielgefährten, platonisch Liebende, oder einfach nur Unbekannte?
    Eines Morgens verlor sie beim Aussteigen in der Eile einen Handschuh, genau da, wo ich stand. Es saßen nur wenige Leute im Wagen, und die schliefen wie gewöhnlich. Keiner merkte was, keiner sah mich, als ich ihn aufhob. Ich hätte ihn ihr wiedergeben müssen, doch die Türen hatten sich schon geschlossen, und außerdem hielt mich irgendetwas zurück, ich weiß nicht, warum. Vielleicht weil das Schweigen, in dem ich mich wiegte, gebrochen worden wäre, wenn ich ihr hinterhergerufen hätte, vielleicht fehlte mir auch nur der Mut. Ich behielt den Handschuh. Er war aus kirschroter Wolle. Zum Glück, denn wäre er aus Leder gewesen, hätte er nicht ihren Geruch bewahrt. Den ganzen Tag schnüffelte ich daran. Wenn mich nur niemand dabei ertappte und dachte, ich sei ein Fetischist. Mir war klar, dass ich im Moment absurde Dinge tat, Dinge, die mir sonst nicht einmal im Traum eingefallen wären. Hätte mir ein Freund so was erzählt, hätte ich ihn für verrückt erklärt, ich glaube nicht, dass ich für so ein Verhalten Verständnis aufgebracht hätte. Aber ich konnte mich den Geschehnissen nicht entziehen. Die Frau aus der Straßenbahn war durch meine hochentwickelte Personenkontrolle geschlüpft. Als ich Silvia davon erzählte, lachte sie, aber für verrückt erklärte sie mich nicht.
    Silvia ist meine beste Freundin. Sie weiß alles über mich. Über die Frau aus der Straßenbahn sprachen wir oft, wenn wir uns abends trafen. Silvia hatte nur etwas dagegen einzuwenden, dass ich den Handschuh in einer Plastiktüte aufbewahrte wie die Leute vom CSI, damit ihr Geruch länger erhalten blieb.
    Was tust du da?, fragte ich mich irgendwann, während ich den Handschuh beschnüffelte, und legte ihn weg. Aber dann ging er mir nicht aus dem Kopf, und wenn ich in seine Nähe kam, geriet ich wieder in Versuchung. Wie einer, der mit dem Rauchen aufhören will.
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