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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht
Autoren: Fabio Volo
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sie mein Leben vollständig umkrempeln.

Die Frau in der Straßenbahn
    Wenn ich früher eine Frau sah, die mir gefiel, habe ich versucht, sie kennenzulernen – und vor allem, sie ins Bett zu kriegen. Nur ganz wenige, die mir gefielen, habe ich ausgelassen. Warum auch?
    Die Frau in der Straßenbahn war eine der wenigen. Ich habe sie immer vor mir beschützt. Das war keine bewusste Entscheidung, es hat sich einfach so ergeben. Ich habe nie begriffen, ob es an ihr lag oder ob ich mich einfach verändert hatte. Gut zwei Monate lang sind wir uns jeden Morgen in der Bahn begegnet. Eine feste Verabredung.
    Zusammen mit Alessandro betreibe ich eine Druckerei. Wir stellen Kataloge her, Bücher in kleinen Auflagen, Prospekte, Broschüren, Werbezettel, und vor den letzten Wahlen druckten wir auch Wahlkampfmaterial für beide Lager: Wir mussten nur die Farbe ändern, alles andere blieb sich mehr oder weniger gleich. Alle Politiker schwafeln von einer besseren Zukunft. Wahrscheinlich meinen sie das Paradies.
    Vor ein paar Jahren habe ich als Angestellter angefangen, und irgendwann bin ich in die Firma eingestiegen. Es klingt vielleicht ein bisschen großspurig, aber alles, was ich anpacke, gelingt mir. Wenn ich mir etwas vornehme, dann schaffe ich es normalerweise auch. Das hat einen einfachen Grund: Was es mir in Liebesbeziehungen schwermacht, macht es mir im Berufsleben leichter. Deshalb verdanke ich meinen Erfolg im Grunde genommen weniger einem Talent als einem Manko. Die Unfähigkeit, mit meiner labilen Gefühlswelt umzugehen, hat zwangsläufig dazu geführt, dass ich mich völlig in die Arbeit gestürzt habe. Emotional war ich schon immer eine Null. In der Arbeit fand ich eine Zuflucht. Dort war es von Vorteil, dass ich nie verliebt und abgelenkt war. Ich war immer der Meinung, mein Leben und meine Gefühle absolut unter Kontrolle zu haben, und so gedachte ich es auch weiter zu halten.
    Auch im Ausland habe ich gearbeitet. Hauptsächlich als ich jung war. In London habe ich gelernt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren.
    Die tägliche Begegnung mit der Frau in der Straßenbahn war das aufregendste Ereignis in meinem Alltag. Ansonsten lief es wie immer. Aber diese paar Minuten in der Bahn stachen heraus, waren klar wie ein Fenster zu einer anderen Welt. Eine Verabredung voller Farben.
    Niemand, den ich kannte oder der auch nur im Telefonverzeichnis meines Handys stand, vermochte mich so aufzuwühlen wie die geheimnisvolle Unbekannte. Sie zog mich magisch an. Doch trotz meiner unbändigen Neugier sprach ich sie nie an.
    Wenn ich in jenem Winter morgens in die Straßenbahn einstieg, saß sie immer schon da. Sie war wie eine Wolke. Sie musste um die fünfunddreißig sein. Wenn die Bahn kam, stellte ich mich auf Zehenspitzen und reckte den Hals, um zu sehen, ob sie drin saß. Wenn ich sie nicht entdeckte, wartete ich auf die nächste. Doch trotz dieser kleinen Vorsichtsmaßnahme kam es manchmal vor, dass ich ohne sie fuhr.
    Zu der Zeit begann ich vor dem Wecker aufzuwachen. Wenn ich sie nicht in der Straßenbahn sah, wollte ich nicht den Zweifel hegen müssen, dass sie vielleicht schon eine Bahn vorher gefahren war, und deshalb ging ich früher als üblich zur Haltestelle.
    Oft träumte ich tagsüber mit offenen Augen von ihr, meist von uns beiden. Es ist schön, wenn es einen Menschen gibt, von dem man träumen kann. Selbst wenn es eine Unbekannte ist. Ich weiß nicht warum, aber wenn ich an sie dachte, kannten meine Gedanken keinen Punkt. Nur Kommas. Eine Lawine aus Worten und Bildern ohne Interpunktion.
    Sie leistete mir Gesellschaft. Dabei bestand unsere Beziehung doch nur aus einem kaum angedeuteten Lächeln hier und da und kurzen, stummen Blicken.
    Sie stieg zwei Haltestellen vor mir aus. Oft war ich versucht, ihr zu folgen, um etwas mehr über sie herauszufinden, aber ich hab’s nie getan. Ich habe nicht mal den Mut aufgebracht, mich neben sie zu setzen. Ich hielt den gebührenden Abstand ein, bemessen an freien Plätzen und einer guten Sicht. Tag für Tag trainierte sie meinen Blick, er wurde immer unauffälliger. Manchmal, wenn sie weit weg saß und ich ihr nicht den Kopf zuwenden wollte, schielte ich, bis mir irgendwann die Augen weh taten. Manchmal war die Bahn zu voll, und jemand stellte sich ausgerechnet zwischen uns, so dass ich sie nicht sehen konnte. Ich starrte sie nicht die ganze Fahrt über an, mir gefiel es, sie eine Weile zu beobachten, woanders hinzuschauen und den Blick dann wieder zu
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