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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht
Autoren: Fabio Volo
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Rücksicht.
    Michela hatte ich nicht nach ihrer Telefonnummer gefragt, weil ich nicht aufdringlich sein, sie nicht in die Verlegenheit bringen wollte, sie mir aus Höflichkeit zu geben. Wenn, dann sollte sie sie mir geben, weil sie es wollte. Im Übrigen war dieser Kaffee zu nichts nütze. Ich gehörte zu ihrem alten Leben, dem Leben, vor dem sie nun floh. Wozu sollte ich sie nach der Adresse fragen? Wir waren nicht befreundet, und ihre Abreise war nun nicht gerade die beste Voraussetzung, um eine Beziehung anzufangen. Dieser Kaffee war nicht der Anfang von etwas, sondern allenfalls das Ende. Ich war nicht in der Lage, sie nach irgendwas zu fragen, doch während ich da saß, in meiner Enttäuschung schmorte und auf ihre Rückkehr wartete, fiel mein Blick auf den Brief der amerikanischen Firma, den sie mir gezeigt und auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Dort stand eine Adresse. Ich überlegte, ob ich sie abschreiben sollte. Warum? Weil es irgendwie wirklich schade gewesen wäre, sie einfach so gehen zu lassen und immer noch nichts über sie zu wissen. Schreib dir die Adresse auf, sagte eine Stimme in mir. Oder lies sie wenigstens.
    Nichts da, ich weiß, was sich gehört! Aber dann tat ich’s doch. In Windeseile. Ich las die Adresse und lernte sie gleich auswendig. Dann stand ich auf und ging zur Kasse, um zu bezahlen.
    »Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht einen Zettel und einen Stift?« Das Mädchen an der Kasse gab mir das Gewünschte, doch als ich den Kugelschreiber aufsetzte, sah ich Michela von der Toilette kommen und sagte: »Ach, nicht wichtig, danke.« Ich ging zu unserem Tisch zurück, wir setzten uns wieder, und ich sah sie an: »Weißt du, ich dachte gerade, wie schade, dass du fortgehst. Ich weiß, es hat keinen Sinn, ich kenne dich ja kaum, aber trotzdem.«
    Die Worte waren einfach so aus mir herausgesprudelt, kaum dass sie sich wieder gesetzt hatte, ich hatte nicht mal Mut aufbringen müssen, um sie auszusprechen, ich hatte sie mir auch nicht vorher zurechtgelegt. Wie Michela hörte ich mir selbst zu, während ich sprach. Michela schaute mir direkt in die Augen, saß eine Weile reglos da und sah mich still an. Die Worte schienen sie berührt zu haben, anscheinend hatten sie ihr gefallen, denn ihr Gesicht öffnete sich zu einem wunderschönen Lächeln, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Aber vielleicht war es auch nur wegen der Kälte: Ein Herr hatte die Bar betreten und die Tür offen gelassen.
    »Also, wann fährst du?«
    »Morgen Nachmittag, der Flug geht um vier.«
    »Hast du schon gepackt?«
    »Das meiste ja, den Rest mache ich heute Abend und morgen früh, bevor ich fahre. Meine Freundinnen und Kolleginnen haben mir zu Ehren eine kleine Feier organisiert. Ich hoffe, ich bin danach noch in der Verfassung, meine Koffer zu packen. Hättest du Lust mitzukommen? Nichts Großes, vielleicht fünfzehn Leute.«
    »Das ist nett, aber es geht nicht, ich hab schon eine Verabredung… Dann fährst du also morgen nicht mehr mit der Straßenbahn?«
    »Nein, heute war das letzte Mal.«
    »Ach so!«
    »Tja, danke für den Kaffee, ich muss jetzt los… du auch, glaube ich.«
    Wir verabschiedeten uns und küssten uns höflich auf die Wangen. Wie gut sie duftet, dachte ich.
    »Dann also ciao, und gute Reise.«
    »Danke. Ciao.«
    Während ich davonging, wiederholte ich die Adresse wie ein Mantra. Als ich um die Ecke bog, lief ich Dante in die Arme. Dante war ein Schulkamerad vom Gymnasium, den ich Jahre nicht gesehen hatte. Er bestürmte mich sofort mit Fragen über mich und die anderen von damals. Dann fing er an, von sich zu erzählen. Er hatte sich vor kurzem getrennt, und er hatte einen Sohn. Haarklein erzählte er mir, was der Kleine schon alles konnte.
    Während er mir in wenigen Minuten sein Leben erzählte, wiederholte ich wie ein buddhistischer Mönch die Adresse.
    Dante nannte seine Telefonnummer und fragte mich: »Fällt dir was auf?«
    »Was denn?«
    »Meine Nummer… ist dir daran nichts aufgefallen?«
    »Nein.«
    »Sie ist ein Palindrom.«
    »Ein was?«
    »Ein Palindrom, meine Telefonnummer ist ein Palindrom. Du kannst sie auch andersherum lesen. Wie Adda, Anna, Otto. Weißt du, dadurch ist sie leichter zu merken. Man muss sich nur die ersten fünf Nummern merken. Und die sind übrigens auch leicht, die kannst du nicht vergessen.«
    Ich gab ihm meine stinknormale Telefonnummer, und wir verabschiedeten uns.
    Da ich das Handy schon mal in der Hand hatte, beschloss ich, Michelas Adresse
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