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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht
Autoren: Fabio Volo
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Vielleicht hätte ich darauf schreiben sollen: »Schadet der Gesundheit!« Der geistigen.
    Schließlich hörte ich auf. Nicht damit, ihn zu beschnüffeln, sondern mir albern vorzukommen. Ich wollte es tun, also tat ich es. Ich genoss dieses Verlangen. Punkt.
    Am Tag, nachdem ich den Handschuh aufgehoben hatte, steckte ich ihn ein, um ihn zurückzugeben. Natürlich hatte ich mir diese Fahrt schon in allen Einzelheiten ausgemalt. Das Schicksal hatte mir einen wunderbaren, triftigen Vorwand gegeben, um das Schweigen zu brechen. Mit einem Handschuh wäre ich in ihr Leben getreten und hätte ihr ein Gefühl der Freude beschert: »Hey… ich bin der Typ, der deinen Handschuh gefunden hat.«
    Als die Bahn kam, sah ich sie. Ich stieg ein und setzte mich. Ich versuchte, all meinen Mut zusammenzunehmen und zu ihr zu gehen, doch dann dachte ich, dass der Handschuh ja eigentlich das Einzige war, was ich von ihr besaß, und ich ihn vielleicht noch ein paar Tage behalten könnte. Gesagt, getan.
    Auch auf dieser Fahrt hat sie mir ein Lächeln geschenkt, daran erinnere ich mich.
    Einmal fehlte sie zwei Wochen. Ich wusste nicht, ob sie krank war oder in Urlaub, ich erinnere mich aber noch gut an meine Angst, sie könnte eine neue Arbeitsstelle haben oder künftig lieber mit dem Auto fahren. Es ließ mir einfach keine Ruhe, es war schrecklich, so getrennt von ihr zu sein. Das Gefühl der Ohnmacht machte mich fertig: Ich konnte sie weder wiedersehen noch aufspüren, ich wusste nichts über sie.
    Über diese tristen Morgenfahrten möchte ich nicht sprechen. Eines Tages saß sie plötzlich wieder da, in der Straßenbahn: Ich konnte meine Freude nicht verbergen. Ich war aufgeregt wie ein Baby, das versucht, nach den Schmetterlingen über seinem Bettchen zu greifen. Ich wusste nichts über sie, aber das war nicht wichtig. Es zählte nur, dass sie wieder da war. Ich wusste nicht, wie sie hieß, wo sie arbeitete, wie alt sie war, ob sie einen Freund hatte und mit wem sie zusammenlebte. Ich kannte nicht mal ihr Sternzeichen. Mich hat das Sternzeichen eines Menschen nie interessiert, aber bei ihr war das anders: Morgens an der Haltestelle nahm ich mir immer eine dieser Gratiszeitungen und schaute gleich auf der Seite mit dem Horoskop nach; ihres hätte ich auch gern gelesen, nur so, um herauszufinden, welches der geeignete Morgen war, sie anzusprechen. Ich wusste nur zwei Dinge über sie: dass sie, ohne es zu wissen, meine Tage aufregender machte und dass sie an derselben Straßenbahnlinie wie ich wohnte, und natürlich in meinen Gedanken.
    Eines Morgens klappte sie wieder einmal das Heft, in dem sie geschrieben hatte, zu und stand auf. Sie ging zur Tür, um auszusteigen, und lächelte mich zum ersten Mal nicht an. Sie tat, als wäre ich nicht da. Ich, König Schuldbewusst, war zutiefst getroffen. In meinem Hirn ratterte es, vielleicht hatte jemand ihr erzählt, dass er gesehen hatte, wie ich den Handschuh einsteckte, vielleicht hatte ich sie zu plump angeglotzt, und sie war langsam genervt, vielleicht meinte sie auch, dass ich sie an dem Tag, als wir uns berührt hatten, absichtlich angefasst, die günstige Gelegenheit ausgenutzt hätte.
    An dieser kleinen Berührung muss sie mein ganzes Verlangen gespürt haben. Man weiß ja, wie die Frauen sind, sie spüren es sofort, wenn man sie begehrt. Vielleicht hat sie das erschreckt.
    Gott sei Dank hatte ich sie nie angesprochen. Wie oft war ich versucht gewesen. Wie oft hatte ich in mir den Impuls gespürt, zu ihr zu gehen. Doch immer hatte ich mich zurückgehalten. Was gar nicht so leicht war, weil ich sie im wahrsten Sinne des Wortes anziehend fand. Wenn ich sie morgens manchmal anschaute, spürte ich, wie meine Seele hin und her wippte: Spitzen – Fersen – Spitzen – Fersen – Spitzen – Fersen: Ich gehe hin – ich gehe nicht hin – ich gehe hin – ich gehe nicht hin – ich gehe hin – ich gehe nicht hin.
    Was ein Glück, dass ich nicht hingegangen war.
    Während ich also dastand und nach einem Grund für ihr Verhalten suchte, drehte sie sich plötzlich zu mir um und brach das Schweigen: »Hast du Zeit für einen Kaffee, oder hast du’s eilig?«
    »Wie bitte?«
    »Hast du Lust, vor der Arbeit einen Kaffee zu trinken? Hast du Zeit?«
    »Ja, ja… gern. Ich steige mit dir aus.«
    Die Türen der Straßenbahn gingen auf, und wir stiegen gemeinsam aus.
    »Da drüben ist eine Bar… ich heiße übrigens Michela.«
    »Giacomo.«
    Im Gehen dachte ich, dass mir noch zwei Dinge an ihr gefielen:
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