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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees
Autoren: Andrea Fazioli
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    Das Fotozimmer
    An einem Tag im Sommer beschloss Tommi, als er morgens aufwachte, jemanden umzubringen. Er hatte am Abend die Fensterläden offen gelassen, und ein Sonnenstrahl hatte ihn noch vor dem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Eigentlich war es kein richtiger Entschluss, nur eine unbestimmte Idee, die sich zwischen Halbschlaf und dem ersten bewussten Gedanken breitmachte.
    Nach so vielen Jahren war allmählich die Normalität zurückgekehrt. Auch Tommi war fast so weit gewesen, das Unrecht zu vergessen. Aber jetzt wollten sie das Becken des Stausees verbreitern und die Orte seiner Kindheit noch tiefer unter Wasser setzen. Jetzt musste er reagieren und war sogar bereit, Gewalt anzuwenden, um der Welt zu zeigen, was Unrecht und was Recht war. Das empfand er wie eine Pflicht, eine Schuld gegenüber dem Andenken seines Vaters und seines Elternhauses.
    Er schälte sich aus dem Bett. Normalerweise brauchte er eine gute halbe Stunde, bis er vollständig wach war, an diesem Morgen aber rüttelte ihn die Wut binnen Minuten auf. Er schlüpfte in seine Pantoffeln und riss mit nacktem Oberkörper das Fenster auf. Die Sonne blendete ihn, und er kniff die Augen zusammen.
    Auf den Kaffee verzichtete er. Er schenkte sich ein Glas Milch ein und trat damit vors Haus. Es war ein Dienstag im August, Viertel nach sieben, und draußen war es kühl. Auf der Straße nach Malvaglia, zwei Meter von ihm entfernt, fuhr der alte Toyota der Signora Bionda vorbei. Da schau her, dachte Tommi, die sitzt sogar im August um Punkt acht an ihrem Schreibtisch. Signora Bionda arbeitete in Bellinzona in der Bank und nahm morgens und abends eine halbe Stunde Fahrt in Kauf, weil sie nicht aus dem Bleniotal fortwollte. Verständlich; auch Tommi wäre nie von Malvaglia, nie von dem Staudamm weggezogen.
    Er reckte sich und dachte an den Tag, der vor ihm lag. Gegen halb neun musste er sich auf den Weg machen, damit er um neun in Lodrino war, im Autohaus Barenco. Hoffentlich hatte sich das Ehepaar Barenco inzwischen versöhnt. In letzter Zeit herrschte dicke Luft. Am Vortag hatte Tommi das Büro als verlassenes Schlachtfeld vorgefunden: verstreute Papiere, die Kundenkartei umgekippt, die Kaffeemaschine auf dem Fußboden. Blass und ohne ihm in die Augen zu schauen, hatte ihn Signor Barenco empfangen.
    »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meiner Frau …«
    »So kann ich nicht arbeiten«, hatte Tommi geantwortet.
    »Du musst entschuldigen, Tommaso, es ist so, dass …«
    »Ich fahr wieder heim«, hatte Tommi entgegnet und war, ohne auf Signor Barencos Beteuerungen einzugehen, in seinen brandneuen Honda Civic gestiegen und nach Malvaglia zurückgekehrt. Schließlich war er Büroangestellter und kein Hanswurst, mit dem man umspringen konnte, wie es einem passte.
    Dabei gefiel ihm sein Job. Besonders anstrengend war er nicht: Er kümmerte sich um die Buchhaltung, erledigte die Korrespondenz und hielt die Kundenkartei auf aktuellem Stand. Interessant fand er, wie die Leute mit ihren Autos umgingen. Da gab es die Pedanten, die den Versicherungsvertrag bis zum letzten Komma auswendig kannten und jeden Monat eine »Generalüberholung« machen ließen, wie Signor Barenco das nannte. Und es gab andere, denen alles egal war und die ihr Auto behandelten wie … na, eben wie ein Auto. Dabei müssten Autos eigentlich wie Menschen behandelt werden, an ihnen ist genau soviel Unvorhersehbares und Geheimnisvolles wie beispielsweise an einer faszinierenden Frau.
    Aber faszinierende Frauen gibt es wenige, dachte Tommi, während er sich vor dem Spiegel rasierte. Wenig faszinierende Frauen und noch weniger fantastische Autos.
    An diesem Morgen empfand er beim Blick auf den Staudamm nicht die gewohnte Bitterkeit, sondern beinahe Euphorie. Die Zeit der Trauer war vorbei. Jetzt würde er kämpfen, endlich. Man hatte ihn seiner Kindheit beraubt, und das forderte Strafe.
    Im Büro war nicht viel zu tun. Die Barencos hatten offenbar einen Waffenstillstand geschlossen, zum Glück, und dass Tommi sie tags zuvor einfach hatte sitzen lassen, wurde mit keinem Wort erwähnt. Außer an Signor Costantini zu schreiben und ihn daran zu erinnern, dass in der kommenden Woche die Motorfahrzeugkontrolle für seinen alten Accord fällig war, tat Tommi bis zum Mittag praktisch nichts. Er hatte also Zeit zum Nachdenken. Irgendwann zog er den Brief wieder hervor, den er kürzlich erhalten hatte.
    Sehr geehrter Signor Porta, hiermit setzen wir Sie in Kenntnis, dass im Rahmen des Verfahrens zum
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