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Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Titel: Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Autoren: C.H.Beck
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F ünf Uhr morgens. Zu früh, um etwas zu essen. Kaum Licht, vielleicht gerade genug, um einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden zu können. Doch im Bad wäscht sich Kawsar am Waschbecken bereits das Gesicht, fährt sich mit einem
caday
, einem Zahnputzhölzchen, über die Zähne und schlüpft in die Tracht, ohne einen Tropfen Petroleum zu verschwenden. Sie tastet sich in den Unterrock und das rote Etuikleid, zwängt dicke Bernsteinreifen über beide Ellbogen und streicht über ihren schlaffen Brüsten eine schwere Silberkette glatt, ordnet auf ihrem schmalen Bett Laken und Decke. Sie trinkt das Glas Wasser aus, das auf dem Nachttisch steht, und schüttelt ihre Ledersandalen aus, für den Fall, dass in der Nacht Spinnen oder Skorpione darin Zuflucht gesucht haben, ehe sie schließlich die Tür zwischen Wohnraum und Küche verschließt. Der Tag wird lang werden, und sie sollte sich zu einem kleinen Frühstück zwingen, aber ihr Magen fühlt sich an wie eine geballte Faust. Mit Sandalen an den Füßen und einem langen Umschlagtuch um die Schultern öffnet Kawsar die Haustür und sieht im Hof die Nachbarinnen versammelt, Maryam English, Fadumo, Zahra und Dahabo.
    «Warum hast du so lange gebraucht,
saamaleyl?
» Dahabo schwenkt die Thermoskanne in Richtung Kawsar.
    «Ich habe mir die Knie eingeölt», antwortet Kawsar lächelnd und hakt sich bei Dahabo ein, mit der sie seit Kindertagen befreundet ist.
    Die Männer und Frauen der Guddi, der Nachbarschaftswache, haben die Nacht über Anweisungen durch Megafone gebrüllt, was man anzuziehen und wo man sich zu versammeln habe. Alle Frauen tragen die gleiche traditionelle Kleidung. Zahra verteilt Zweige, die sie von einem
miri-miri-
Baum gerupft hat; sie haben diese, eine weitere Anweisung aus den Megafonen, im Stadion zu schwenken. Auf der schmalen, sandigenStraße, die vor ihnen liegt, wimmelt es von gleichfalls traditionell gekleideten Frauen, denen weitere träge folgen. Sie gehen an Umar Fareys Achtzehn-Zimmer-Hotel vorbei, die Fenster blind, die Läden geschlossen, als schliefe das Gebäude. Aus Zahras Videohalle dringen weder Hindi-Songs noch Kung-Fu-Geräusche und Raages Eckladen ist nicht mehr Aladins Schatzhöhle, sondern nur noch eine Wellblechhütte.
    «Wie früh die uns aus dem Bett reißen! Diese Schweine kennen keine Grenzen.» Maryam English zieht den Gurt fester, mit dem sie sich ihr Baby auf den Rücken geschnallt hat; die beiden älteren Kinder hat sie zu Hause eingeschlossen.
    Kawsar massiert dem schlafenden Baby den Rücken und wünscht, es wäre Hodan, ihr Kind, als Säugling zurückgekehrt, mit der Chance auf ein zweites Leben.
    «Schaut uns an, wir sehen aus wie dieselbe Frau in verschiedenen Lebensaltern», lacht Fadumo und bahnt sich mit ihrem Stock den Weg.
    Es stimmt, sie ähneln einander sehr, außer dass Maryam English Ende zwanzig ist, Zahra Mitte vierzig, Dahabo wie auch Kawsar Ende fünfzig und die arme Fadumo über siebzig. Wie Zeichnungen in einem Schulbuch sehen sie aus, alle im gleichen Gewand, lediglich ein paar Falten im Gesicht oder ein gekrümmter Rücken verraten ihr Alter. So will die Regierung sie offenbar haben – schlichte, lächelnde Karikaturen ohne Ansprüche oder eigene Bedürfnisse. Jetzt sind diese Karikaturen zum Leben erwacht – nicht wie die Figuren auf den Geldscheinen beim Säen, Weben oder in einer Fabrik schuftend, sondern unter Zwang zu einer Feier trottend.
    Sie gehen durch Seitenstraßen, der Himmel über ihnen wird immer blasser, bis sie das Stadion erreichen. Die Guddi-Aktivisten mit ihren Armbinden wollen wissen, aus welchem Viertel sie kommen, und zählen die Frauen, als sie durchs Tor gehen.
    «Da ist Oodweyne und überwacht uns!», schreit Dahabo und zeigt nach oben.
    «Pst!», zischt Maryam. «Die hören dich noch.»
    Kawsar dreht sich um, um zu prüfen, ob die Guddi tatsächlich etwasmitbekommen haben, aber sie sind mit den Menschenmassen beschäftigt, die durch das Tor drängen. Die Mütter der Revolution sind aus ihren Küchen und von ihren Pflichten weggerufen worden, damit sie den ausländischen Würdenträgern zeigen, wie beliebt das Regime ist, wie dankbar sie alle sind, dass es ihnen Milch und Frieden gebracht hat. Es braucht Frauen, um menschlich zu erscheinen.
    Hinter Dahabos erhobenem Finger hängt ein riesiges Bild des Diktators wie eine neue Sonne über dem Stadion, Strahlen umkränzen sein Haupt. Die Maler haben versucht, dieses grausame, griesgrämige Gesicht sanfter
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