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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr
Autoren: Christoph Marzi
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eingezogen war, hatte sie den Raum als Abstellkammer benutzt, und wenn ich ehrlich bin, dann sah es dort bewohnt noch genauso aus.
    Eine rote Plüschcouch stand unter dem Fenster, durch das ich bei schönem Wetter den East River sehen konnte. Nachts diente mir die Couch als Bett, und tagsüber saß ich auf ihr und übte Riffs und Griffe auf der Gitarre, die ich bei einem Trödler drüben in Brooklyn erstanden hatte, damals, als ich in die Stadt gekommen war.
    Überall auf dem Boden lagen Notenblätter herum, Zettel voller Textzeilen, die hoffnungsvolle Lieder werden sollten. Wenn es regnete, dann erfüllte ein sanftes Prasseln die Kammer, und die Regentropfen auf dem Fenster ließen die Welt draußen zu einer einzigen Unwichtigkeit verschwimmen.
    In dem Winter, in dem ich Selina kennenlernte, war mein Leben genauso geordnet wie die Kammer, in der ich lebte. Nachts klapperte die alte Heizung unruhig, und auf dem Fenster hatten sich am Morgen Eisblumen gebildet. Der Wind heulte ums Haus, und wenn die Heizung lief, dann lag ein Duft wie nach warmem altem Holz in der Luft, der einen wie eine dunkle schwere Farbe umgab. Ich schloss dann die Augen und atmete tief durch, und meine Finger suchten in den Saiten nach einer Melodie, die ich mit bloßen Händen und einem abgeschabten Plektron zu fangen versuchte, bevor sie vollends verschwunden war. Die Songs, die ich komponiert hatte, durfte ich in einigen Clubs spielen, aber keiner davon war das, was man als Hit bezeichnet hätte.
    Dass ich in jenem Winter keine vernünftigen Noten zu Papier brachte, lag gewiss nicht zuletzt an Selina.
    »Ich bin wie eine Katze.« Das hatte sie mir gleich bei unserem ersten Treffen gesagt.
    Ein wolkenverhangener Tag im Herbst war es gewesen, als sie an meiner Tür geklopft und sich vorgestellt hatte.
    »Die Milch ist mir ausgegangen.«
    »Hallo«, sagte ich und stellte mich vor.
    Sie lächelte.
    »Kaffee schmeckt ohne Milch wie die Nacht ohne Lichter.«
    Das war Selina.
    Sätze wie diesen hörte man andauernd von ihr.
    »Sie sind die neue Mieterin von unten?«
    Eine Hand wurde mir entgegengestreckt. »Ich bin Selina.«
    So lernte ich sie kennen.
    »Sie sind Musiker?«
    Geschmeidig hatte sie sich in meine Kammer gestohlen und in den alten Platten herumgekramt. Dylan. Springsteen. Young. Cash. Nelson. Songwriter, Götter.
    Ich deutete zur Gitarre. »Reich bin ich damit noch nicht geworden.«
    Sie lächelte. »Kommt noch.«
    »Na, hoffentlich.«
    Wir redeten. Unwichtiges Zeug, aber es war besser, als bei Regen auf der Gitarre zu spielen.
    Als sie ging, hatte ich zumindest gelernt, dass Kaffee ohne Milch wie die Nacht ohne Lichter war. Außerdem hatte mich ihr Lächeln verzaubert. Es gibt Momente, da passiert einem so was.
    Dieser war so einer.
    Selina wurde zu einem regelmäßigen Gast in meiner Kammer, weil es immer etwas gab, was ihr fehlte. Zucker, Kaffee, Batterien für den Wecker, eine Glühbirne, Stecknadeln, ein einzelner Schnürsenkel (braun, für einen Schuh mit zwölf Paar Ösen), Toast, Milch, Tomaten. Ja, so fing es an. Letzten Endes aber kam sie, glaube ich, einfach nur nach oben, weil sie nicht in ihrer Wohnung sein wollte.
    »Es ist so leer da unten«, sagte sie mir.
    Und meinte das, was sie sagte, genau so.
    Denn in ihrer Wohnung befand sich kaum etwas. Außer einer Matratze und einem alten, riesigen Koffer, der Kleidungsstücke und ein Telefon enthielt, fand man sehr wenig. Es sah aus, als sei sie auf der Durchreise und habe es bisher noch nicht geschafft, ihren Koffer auszupacken. So leer war die Wohnung, dass Stimmen ein kühles Echo darin warfen.
    »Ich bin so selten in der Wohnung«, sagte sie, »da lohnt es kaum, eine Einrichtung anzuschaffen.«
    Sie arbeite in einem indischen Hotel in den East Seventies, dem Si-Suwat.
    »Es ist nur ein Job.«
    Sie wollte Tänzerin werden. Das war der Traum, für den sie lebte.
    »Weißt du«, fragte sie eines Nachts, »wie das Meer riecht?« Sie schaute aus dem Fenster, als könnten ihre Blicke durch die Dunkelheit zum East River fließen und dann mit ihm hinaus ins Meer. »In Portland, wo ich aufgewachsen bin, da konnten wir oft das Meer riechen. Als ich klein war, da hatte ich Angst, dass es eines Morgens einfach nicht mehr da sein würde. Aber es war natürlich nie verschwunden. Jeden Morgen roch es nach Meeresluft. Das war das erste, was der Tag mir gab. Verstehst du das?«
    Ich nickte nur. Und dachte an einen Song von Bob Dylan.
    »Als ich nach New York kam, konnte ich mich nur noch an
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