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Das alte Kind

Das alte Kind

Titel: Das alte Kind
Autoren: Zoe Beck
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Berlin, September 1978
     
    Carla musste lachen. »Das ist nicht mein Kind«, sagte sie.
    Die Schwester sah sie erschrocken an. »Ach Gott, das ist mir jetzt aber peinlich!« Sie nahm Carla den Säugling aus den Armen und beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen.
    »Für manche sehen sie alle gleich aus«, sagte die Frau im Bett neben ihr. Schwere Neurodermitis. Carlas Gürtelrose war abgeheilt, sie durfte ihr Kind wiedersehen, und sie hatte sich über eine Woche auf diesen Tag gefreut.
    »Haben Sie Kinder?«, fragte sie die Neurodermitis, deren Namen sie noch nicht wusste, weil sie erst heute ins Zimmer gekommen war. Die Frau war etwa in Carlas Alter, höchstens aber Mitte dreißig. Wie Carla schon vermutet hatte, schüttelte sie den Kopf.
    »Habe keine, will keine, und ja, auch für mich sehen sie alle gleich aus.« Sie grinste. »Ella Martinek.«
    »Ella Martinek?« Carla setzte sich auf. »Die Fotografin?«
    Ella nickte neugierig. »Sie interessieren sich für Fotografie?«
    »Carla Arnim«, stellte Carla sich vor, und Ella machte große Augen.
    »Das gibt’s doch nicht.« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. »Und wir müssen uns ausgerechnet treffen, wenn ich so schlimm aussehe!«
    Carla lachte. »Ich bin auch nicht frisiert und im Chanel-Kostüm. Nehmen Sie die Hände runter! So schlimm ist es gar nicht.«
    Es war schlimm. Besonders für eine junge Frau, das war Carla klar. Die Neurodermitis zog sich quer über die linke Gesichtshälfte und fast den gesamten Hals. Die Arme konnte sie nicht sehen, Ella trug ein langärmeliges Pyjamaoberteil, aber die linke Hand war am schlimm sten betroffen. Wahrscheinlich wollte sie deshalb keine Kinder. Weil sie fürchtete, die Krankheit zu vererben. Oder weil sie sich nicht auf eine feste Beziehung mit einem Mann einlassen wollte, aus Scham über die immer wiederkehrende Entstellung, aus Angst, die vielen Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte wären eine zu große Belastung für den Partner.
    Sie kamen ins Plaudern. Über Ellas aktuelles Projekt; sie war eine Zeit lang in London gewesen und hatte dort Punkbands begleitet und porträtiert. Über die nächsten Auktionen, die Carla plante. Sie fachsimpelten über die im vergangenen Jahr verstorbene Lee Miller, fanden über sie schnell den Bogen zum Thema Hausfrauendasein und Depressionen, entdeckten gemeinsame Bekannte, fingen an, über diesen oder über jene zu lästern, hatten einen Riesenspaß, und Carla merkte gar nicht, wie die Zeit vergangen war. Wie lange die Schwester brauchte, um Felicitas von der Säuglingsstation zu holen. Erst als der Arzt ins Zimmer trat, die Schwester mit großen Augen und einem Säugling im Arm hinter ihm, dachte sie: Das hat aber gedauert.
    »Frau Arnim.« Der Arzt lächelte sie an. »Wir bringen Ihnen Ihre Tochter.«
    Die Schwester trat vor und legte ihr Felicitas in die Arme.
    Nur, dass es nicht Felicitas war. Immer noch nicht.
    »Ist das dasselbe Kind wie vorhin?«, fragte Carla verwirrt.
    »Das ist Ihre Felicitas«, sagte der Arzt und nickte der unsicher dreinblickenden Schwester zu.
    »Ich erkenne doch meine eigene Tochter, und das hier ist nicht meine Tochter. Sie haben das Kind vertauscht.« Carla wunderte sich selbst, wie ruhig sie das sagte.
    Der Arzt setzte sich ans Fußende ihres Betts, ohne sie zu fragen. »Wir haben im Moment nur einen weiblichen Säugling im Alter von sechs Monaten auf der Station. Die Kinder bekommen ein kleines Bändchen, sehen Sie hier.« Er beugte sich vor und nahm behutsam das linke Ärmchen des Säuglings in die Hand, um ihr das Bändchen zu zeigen. Carla hielt das fremde Kind ein gutes Stück von sich weg, hoffte, er würde es ihr abnehmen, aber das tat er nicht.
    »Da steht der Name Ihrer Tochter«, sagte er ruhig und lächelte wieder. »Es ist alles in Ordnung. Wir haben Felicitas ganz sicher nicht verwechselt, es geht ihr gut, und sie war sehr brav. Natürlich hat sie Sie vermisst.«
    Das Kind fing an zu weinen. Carla begann reflexartig, es zu schaukeln, doch dann hielt sie es wieder von sich weg.
    »Nehmen Sie sie bitte, das ist nicht meine Tochter.« Sie versuchte, die Panik in sich zu ersticken. Als sie sah, wie der Blick des Arztes ernster wurde, wie die Schwester sich nervös von ihr wegdrehte und ans Fenster trat, konnte sie nicht mehr. »Nehmen Sie mir doch endlich dieses Kind ab!«, rief sie und hielt den schreienden Säugling so weit von sich weg, wie sie konnte. Die Schwester stürzte auf sie zu und entriss ihr das Kind. Schützend nahm sie
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