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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr
Autoren: Christoph Marzi
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wusste, dass sie nie ein Wort über die Briefe verloren hatte. Früher waren sie in regelmäßigen Abständen gekommen. Mama hatte sie in einem Holzkästchen aufbewahrt. Vor sechs Jahren waren dann keine Briefe mehr gekommen, und das Holzkästchen wurde nicht mehr unter dem Schrank hervorgeholt. Damals war Mama für kurze Zeit sehr unruhig gewesen, doch es war vorübergegangen. Das war die Zeit gewesen, in der ich öfter von zuhause geflüchtet und auf einer meiner Wanderungen Keanu über den Weg gelaufen war.
    Zufälle gibt es wohl nicht.
    »Das Leben kann so seltsam sein«, flüsterte sie, »so gierig.«
    Es war warm im Gewächshaus. Palmen und Rosen wuchsen um uns herum.
    »Der Laden ist geschlossen, solange wir reden«, sagte Mama. »Ich habe das Schild vorgehängt.«
    Wir setzten uns auf die Gartenstühle in der Ecke, wo auch das Telefon steht.
    Dann begann sie zu erzählen.
    Von der Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss, wo sie Papa damals kennengelernt hatte, und den wunderbaren Monaten, die sie zusammen verbracht hatten. Wie ein Film aus Worten lief es vor mir ab. Die uralte Metropole von London erwachte zum Leben in der Stimme meiner Mutter. Es war seltsam, von diesen Dingen zu erfahren, die mit meiner Geburt endeten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Mama damals gewesen war. Wie heute, nur jünger. Aber ihre Augen waren bestimmt die gleichen gewesen. Ich weiß nicht, wie lange sie redete, aber sie redete lange. Sie erzählte mir alles, was ich immer hatte wissen wollen, einfach so. Ich musste nicht einmal Fragen stellen. Ich musste nur zuhören, und schon nahm alles Gestalt an.
    »Wir haben uns getrennt«, sagte sie, und jedes einzelne Wort kam ihr viel zu langsam über die Lippen. »Wir mussten es tun. Einen anderen Weg gab es nicht.«
    Ich brauchte einen Moment, bis all die Bilder und Worte bei mir angekommen waren. Sagt man nicht, dass jede Familie ihre Geheimnisse besitzt? Das von Mama über all die Jahre gehütete war schrecklich. Das Schicksal hatte die beiden auseinandergerissen, auf immer und ewig.
    »Was ist aus ihm geworden?« Ich starrte die Pflanzen an, und mir wurde bewusst, dass ich gerade meine Wurzeln entdeckt hatte. Dass ich erfahren hatte, welches Glück meinen Eltern vergönnt gewesen war. Und wie schnell dieses Glück hatte sterben müssen.
    »Es geht ihm gut.« Sie senkte den Blick. »Nun ja, es ging ihm gut.«
    »Was heißt das?«
    Mama rieb sich die Augen. Sie wirkte so traurig. Wie jemand, der mit dem Leben abgeschlossen hat. »Ich weiß nicht, wie es ihm heute geht. Als wir uns trennten, in jener Nacht, da brachte mich jemand, der es gut mit uns meinte, hinunter zu den Docks. Bevor ich aber an Bord des Schiffes ging, das mich fortbringen sollte, versprach er, mir Briefe zu schreiben.« Tränen standen ihr in den Augen.
    »Die Briefe, die du immer versteckt hast.«
    »Du hast sie bemerkt?«
    Ich zog ein Gesicht. »Ich bin nicht dumm.«
    Sie musste lächeln. »Ja, die Briefe, die in dem Holzkästchen liegen.« Sie atmete tief durch. »Nur vier kurze Worte waren es, mehr hat er nie geschrieben. Es geht ihm gut. Das war alles. Es geht ihm gut. «
    »Wer hat dir die Briefe geschrieben?«
    Sie winkte ab. »Was sind schon Namen?!« Sie seufzte laut. »Vor sechs Jahren kam auf einmal kein Brief mehr. Es hörte auf, einfach so.«
    »Du glaubst, ihm ist etwas zugestoßen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht deinem Vater, nicht ihm.«
    Ich dachte an New York und die verschlungenen, düsteren Pfade Neu Amsterdams. An Greenwich mit seinen bunten Geschäften und Kneipen. An Lower Manhattan, die Hudson Märkte und die 5th Avenue Downtown mit ihren missgestalteten Zeitungsjungen. An die eifrigen Maulwurfmenschen von Great Central und die Cherokee-Händler von Liberty Island. Wie oft ich damals am Ufer gestanden und zum Meer hinausgesehen hatte, weil ich die Vergangenheit in der Ferne gesucht hatte. Und tatsächlich – irgendwo auf der anderen Seite des Atlantiks lebte mein Vater noch immer.
    New York war Vergangenheit für mich.
    »Maurice Mickelwhite«, sagte sie, »war ein zuverlässiger Freund, all die Jahre, auch wenn er nie mehr als vier Worte geschrieben hat.« Es war ein Name, der wie ein Geheimnis klang. »Ich glaube, dass ihm vor sechs Jahren etwas wirklich Schlimmes widerfahren ist. Deswegen kam kein Brief mehr.«
    Ich fragte mich, wie schrecklich das Gefühl sein muss, wenn man dazu gezwungen wird, einen geliebten Menschen zu verlassen. Wenn man weiß, dass man ihn niemals
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