Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
Schrei in den Augen. Das, was man gesehen hat, kann man nicht mehr vergessen. Das, was man gehört hat, wird zum Lied eines ganzen Lebens.
    »Was ist das?« Mama fragte das immer, wenn ich am Klavier saß.
    Immer!
    »Geklimper«, lautete meine Antwort, jedes Mal.
    »Es ist schön.«
    »Es ist nur Geklimper.« Ich wusste, dass meine Stimme genervt klang. Klavier zu spielen war nie meine Stärke gewesen. Das alte Ding hatte in dem Haus in der Winnipeg Street gestanden, als wir eingezogen waren. Das Holz war voller Kratzer und hatte seinen Glanz schon lange verloren. Die Tasten, mehr gelb als weiß und grau als schwarz, waren ganz staubig und schmutzig. Bei manchen war die Farbe sogar völlig abgeblättert. Ich mochte es vom ersten Augenblick an, dieses hässliche Ding.
    »Dein Geklimper ist trotzdem schön«, pflegte Mama zu sagen. Ja, sie konnte das wirklich gut. Dinge sagen wie diesen Satz. Dinge, die einem das Gefühl gaben, irgendwo hinzugehören.
    »Es ist nicht mal eine Melodie«, gab ich dann zu bedenken.
    »Das ist egal.«
    »Mama!«
    »Scarlet!« Sie konnte den Namen so aussprechen, dass ich mir vorkam, als lebte ich auf Tara.
    Das war immer der Moment, in dem ich aufschaute. »Was ist denn?«
    »Du spielst das, was dir im Kopf herumspukt.«
    Da hatte sie recht.
    Ich spielte einfach drauflos. Und es gab vieles, was mir im Kopf herumspukte, seit wir in St. Clouds lebten.
    Vor vier Jahren waren wir hergekommen.
    Mama hatte ein altes Haus gekauft, dort, wo der Wald beginnt und manchmal, wenn es besonders kalt ist, ein Schwarzbär durch die Straßen streift und die Mülltonnen umwirft. Es ist ruhig hier, fast schon idyllisch. Im Winter ist es eisig kalt und im Sommer sengend heiß. St. Clouds ist eine Stadt, in der sich die Menschen kennen und einander grüßen, wenn sie sich auf der Straße begegnen.
    In den Gesprächen auf der Straße und über die Zäune hinweg werden nette Belanglosigkeiten ausgetauscht: Wie wird der Winter werden, wie der Sommer, wie der Herbst? Welcher Dünger ist gut für den Rasen, wer hat Probleme mit Moos oder Waldmurmeltieren? Man sieht Pick-ups mit großen Säcken, die reichlich Saatgut enthalten, und Männer mit karierten Hemden und Baseballmützen, die Budweiser trinken, manche schon am Morgen. Man spricht über Baseball, wenn die Saison beginnt, und immer noch, wenn sie vorbei ist. An den Garagen sind Basketballkörbe angebracht, in die Jungs Bälle werfen. Eltern treffen sich in Schulen und Kindergärten, um Kuchen zu backen oder Feste vorzubereiten.
    Das ist St. Clouds.
    Minneapolis ist nicht weit fort und doch Welten entfernt.
    St. Clouds kann nicht verglichen werden mit den Orten, an denen wir vorher gelebt haben. New York, Indianapolis, Chicago – es hat uns immer weiter nach Westen verschlagen, wie die Siedler, die so lange vor uns gekommen waren. In Greenwich Downtown hatte Mama ein kleines Geschäft geführt. Sie hatte Steine und allen möglichen Krimskrams verkauft, damals. Ich war noch klein gewesen. Zehn oder elf Jahre. Alt genug aber, um mich zu erinnern. Es war eine schöne Zeit gewesen.
    Dann sind wir weggezogen. Meine Freundinnen sind dort geblieben, und manchmal haben wir uns noch geschrieben, aber nicht oft. Jetzt kann ich mich kaum noch an ihre Namen erinnern.
    Jetzt bin ich hier.
    In St. Clouds.
    Manchmal fahre ich mit dem alten Volvo, den ich seit der Highschool mein eigen nenne und der mich all die Jahre treu von hier nach Minneapolis gebracht hat, hinauf zu den großen Seen, die alle aussehen, als wären sie gern Ozeane. Sie riechen wie das Meer, obwohl es noch weit fort ist. Gänse, Enten, Raufußhühner, Fasane und Truthühner gibt es dort überall. Manchmal sieht man einen mächtigen Weißkopfseeadler, doch öfter kommen Rotschwanzbussarde zum See, gleiten über die Wiesen oder sitzen im Geäst der Fichten, Birken oder Pappeln. Im klaren kalten Wasser der Bäche schwimmen einem Bachsaiblinge und Forellen um die Füße, in den Seen tummeln sich Barsche und Hechte und Muskellungen.
    Wenn ich dort oben bin, dann frage ich mich, ob die Jahre an der Universität in Minneapolis nicht reine Zeitverschwendung waren. Die akademischen Gedanken und Arbeiten, das Gerede und die Eitelkeiten der Professoren. Man versucht die Natur zu klassifizieren und zwängt alles in ein Schema, das dem Leben die Luft nimmt. Nur weil Mama es so wollte, habe ich das Studium beendet. Sie hat mich darum gebeten, und ich liebe sie und deswegen war es nie eine Frage, den Weg zu Ende zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher