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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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    B ei Tagesanbruch erreichte mich die Stimme der Brandung, ein dumpfes Rauschen in meinem Kopf, wie bei einer ans Ohr gehaltenen Seemuschel. Eine Weile gab ich mich Traumbildern hin, blieb ruhig liegen. Es war noch nicht ganz hell und ich wollte noch schlafen … Die Augen fielen mir zu, als ich am Rande meiner Wahrnehmung leicht erschauerte. Aus irgendeinem Grunde war ich unruhig. Ich setzte mich auf, warf mein Haar aus dem Gesicht. Mein Herz pochte. Ein Zeichen? Hatte ich ein Zeichen empfangen? Für gewöhnlich wusste ich, womit ich es zu tun hatte, aber an diesem Morgen war mein Denken verwirrt. Das, was wir »Zeichen« nannten, war häufig nichts anderes als die genaue Beobachtung scheinbar geringfügiger Einzelheiten, die sich nach und nach zu einer Erkenntnis fügten. Am Tag zuvor oder in der Nacht musste ich etwas so Nebensächliches gehört, gesehen oder gefühlt haben, dass ich es aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte, etwas, von dem ich jedoch wusste, dass es von großer Bedeutung war. Vielleicht, wenn ich gut nachdachte, würde es mir wieder in den Sinn kommen.
    Im Raum nahm das Tageslicht zu. Die heiligen Hähne krähten, begrüßten die Sonne, die rot aus grauen Nebelschwaden glitt, von Atemzug zu Atemzug an Leuchtkraft und Wärme gewann. Die Burg erwachte, Stimmen und Schritte wurden laut. Ich hörte das Schleifen der sich öffnenden Schiebetür, als Miwa, meine Kinderfrau, den Morgentee brachte. Stumm leerte ich meine Schale, schlürfte den süßen Reisschleim, den sie für mich gekocht hatte. Als sie mein Haar kämmte und mit zwei glänzenden Schleifen zusammenband, strich sie mir mit der Hand über die Stirn. Unter dem blauweißen Tuch, das ihr Haar verhüllte, nahm ihr rundes Gesicht einen besorgten Ausdruck an.
    Â»Wie heiß du dich anfühlst! Bist du krank? Tut dir der Kopf weh?«
    Â»Ja, ein wenig«, erwiderte ich.
    Sie sagte, ich solle liegen bleiben. Sie würde kommen und mir eine Salbe bringen. Sie ging, zog die Schiebetür hinter sich zu. Ich nahm mir Miwas Rat zu Herzen und legte mich wieder hin. Doch das Lager aus weichen Hanfgräsern war mir unbehaglich und mit meinem Kopf wurde es auch nicht besser. Die Morgensonne schien hell; trotzdem fror ich, mein Magen krampfte sich zusammen und das Rauschen in meinen Ohren nahm zu. Immer wieder dachte ich an eine Muschel, dann an die Brandung, bis das Bild des Ozeans ganz deutlich vor meinem inneren Auge entstand. Miwa würde gleich mit ihrer wohltuenden Salbe kommen, doch ich konnte nicht mehr auf sie warten. Der Sturm der Unruhe, der mich erfüllte, hatte etwas zu bedeuten, etwas, was keinen Aufschub duldete. Ich zog mich mit Anstrengung hoch, streifte ein Gewand über, schlüpfte in bequeme Strohsandalen. Hastig schob ich die Tür auf und rannte durch einen Gang, fiel fast die Stufen der Holztreppe hinunter und lief im Schatten der Mauer durch den gepflasterten Innenhof. Die Burg aus Stein und Mörtel, mit den engen weiß vergitterten Fenstern, vermittelte trotz ihrer Masse ein Gefühl von Schlichtheit und Harmonie. Die großen Torflügel standen offen, die Wächter schenkten mir keine Beachtung, und der Zufall machte, dass ich niemandem begegnete, der an meiner Eile hätte Anstoß nehmen können. Schon erreichte ich die schmale Brücke über den Wallgraben. Eine unterirdische Quelle speiste das grüne Wasser. Unter den Seerosen fingen die Kinder manchmal eigenartige Fische, weiß und blind, die sie ehrfürchtig wieder freiließen. Die Festungsmauer selbst bestand aus großen, grob behauenen Felsblöcken. An allen vier Ecken ragten runde Türme mit Strohdächern empor. Von dort aus konnten die Wächter weit über Meer und Land blicken.
    Ein steiniger Pfad führte zum Heiligtum von Sugati, das meine Mutter ein Jahr vor meiner Geburt hatte erbauen lassen, um die Gottheit zu bewegen, ihr eine Tochter als Nachfolgerin zu schenken. Die Gottheit hatte sie schließlich erhört, doch das Geheimnis meiner Geburt quälte mich zunehmend, je älter ich wurde, denn was meinen Vater anbelangte, erzählte man sich allerlei Seltsames. Meine Mutter selbst sprach nie darüber, und es ziemte sich für mich nicht, ihr Fragen zu stellen.
    Das Heiligtum war auf mächtigen Pfählen errichtet. Im Laufe der Jahre hatte das verwitterte Gebälk eine dunkle Bronzefärbung angenommen. Ein gewaltiger Firstbalken
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