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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr
Autoren: Christoph Marzi
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Vorwort
    Kurzgeschichten sind Sterne, die flackernd am Himmel funkeln. Man übersieht sie leicht, denn sie sind klein und zerbrechlich. Man hört sie kaum, denn was sie sagen, ist kaum mehr als ein Flüstern. Aber sie bleiben im Kopf, lange noch, nachdem ihr Ende verklungen ist und der letzte Satz gesprochen wurde, wie eine Sternschnuppe, die am Nachthimmel versinkt.
    Kleinen Kindern erzählt man Märchen, die meist nicht mehr sind als kurze Geschichten. Wer erinnert sich nicht daran? Wenn die Eltern das Zimmer verlassen hatten, der Wind an den Fensterläden rüttelte und die knorrigen Äste an der Hauswand entlangschabten, wenn es richtig dunkel geworden war, dann kehrten all die Details zurück: das Gesicht der Hexe und die Hitze der Flammen, das ums Feuer tanzende Rumpelstilzchen und die Wölfe in den Wäldern. Kinder denken darüber nach, was ihnen eine Geschichte sagen soll. Sie fragen sich, was sie zu bedeuten hat. Erwachsene haben oftmals vergessen, wie so was geht. Erwachsene analysieren, aber sie haben zu fühlen verlernt. Kinder begreifen instinktiv, um was es in einer Geschichte geht. Für sie ist das alles lebendig, greifbar, wirklich. Und Kurzgeschichten sind länger, als sie scheinen. Manchmal viel länger, als Romane es je sein können. Niemand sollte den Fehler machen, die Länge einer Geschichte an der Anzahl der Wörter zu messen. Die Autoren meiner Kindheit – Wilhelm und Jakob Grimm, Hans Christian Andersen, Edith Nesbit, Rudyard Kipling, Roald Dahl, Astrid Lindgren –, sie alle konnten wirklich lange Geschichten mit nur so wenigen Worten erzählen, dass es pure Magie sein musste, was sie da taten. Und am Ende ist man doch noch immer das Kind, das gern Geschichten hört.
    Im Grunde genommen hat es meine Mutter zu verantworten, dass ich Geschichten mag. Sie war diejenige, die mir stundenlang Geschichten vorgelesen hat. Ich war sechzehn, als ich mit dem Schreiben begann. Es waren kurze Geschichten, die ich auf der Kofferschreibmaschine meines Vaters tippte, damals. Später wurden die Geschichten länger, doch immer wieder kehrte ich zur kurzen Form zurück. Das tue ich noch heute. Die meisten der Geschichten in diesem Buch habe ich schlichtweg für mich selbst geschrieben. Einige andere sind auf Anfrage entstanden. Kurzgeschichten sind wie eigenwillige Kinder, die zum Leben erwachen und tun, was sie nicht bleiben lassen können. Ich mag sie, weil sie sind, wie sie sind. Und ich hoffe, Sie mögen sie auch.
     
    Jede Geschichte hat ihren Rhythmus, besitzt eine eigene Stimme. Manchmal gibt es sogar Geschichten, die sich in Einleitungen verstecken, weil sie zu schüchtern sind, um an ihrem Platz zu stehen und vor aller Augen auf Applaus zu warten.
    Dies hier ist so eine Geschichte. Sie heißt
     
    Spiegel, Schloss und Sarg
    und sie geht so:
     
    Einst lebte ein König in den grünen Landen jenseits der weißen Klippen, und dieser König liebte eine heimtückisch herrschsüchtige Frau mit einem Gesicht, so wunderbar schön wie Alabaster. Ihr Lächeln war wie ein mohnrotes Gemälde und strahlte wie ein Abbild der Sonne, und doch vermochte es niemanden zu verzaubern.
    Die Spiegel, die alle Wände des Schlosses bedeckten, waren ihre besten Freunde. Ihnen vertraute sie sich an, und das Gift, das ihr wie süße Worte von den Lippen troff, benetzte die Spiegelbilder, die vor ihrer unsagbaren Schönheit beinah leuchteten.
    Doch als die Königin älter und ihr Gesicht zu dem Gesicht wurde, das sie wirklich besaß, da wuchs die Missgunst in ihr, wie sie es niemals zuvor getan hatte, und es sah aus, als zerfräßen Maden die einstmals so reine Haut.
    Die Spiegel zeigten ihr Falten und Flecken und unstillbare Wut in den schmalen Augen.
    Sie hörte das Krächzen der eigenen Stimme und aus der Ferne die lieblichen Gesänge der Mädchen auf den Feldern.
    Das war der Moment, in dem sie die Spiegel befragte.
     
    Und die Spiegel, die dumme Wesen sind und feige dazu, gaben ihr einen Rat, den sie dem König zutrug.
    Sie weinte und raufte sich die Haare, so verzweifelt und so zornig war sie.
    Dem König, der alt und gutmütig war, tat die Königin leid.
    So schickte er seine Soldaten aus, auf dass sie der Königin frische Gesichter besorgten.
     
    Scharfe Messer machten der Königin die jungen Gesichter der Mädchen vom Feld und aus den Dörfern zum Geschenk. Mit Nadel und Faden trug die Königin ein Gesicht nach dem anderen auf dem ihren, und wenn eines der neuen Gesichter alt und schäbig wurde, so ließ sie sich
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