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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Autoren: Annick Cojean
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Verbrechen von Gaddafi nicht in Vergessenheit geraten.
    »Ich habe das nicht geträumt, Annick! Du glaubst mir doch, nicht wahr? Namen, Daten, Orte – ich habe dir alles erzählt. Dabei wollte ich vor einem Gericht aussagen! Warum muss ich mich schämen? Warum muss ich mich verstecken? Warum sollte ich für all das zahlen, was er mir angetan hat?«
    Ich bin darüber genauso empört wie sie. Und ich hätte diese Empörung gern mit anderen Libyerinnen geteilt: mit Staatsbeamtinnen, Anwältinnen, Frauen aus dem Umfeld des Nationalen Übergangsrates, Verteidigerinnen von Persönlichkeitsrechten. Leider wird keine dieser Frauen im Augenblick daraus ihren Kampf machen. Ein zu sensibles Thema. Ein zu großes Tabu. Eine Sache, bei der keiner gewinnen, sondern alle verlieren werden. In einem Land, das komplett in der Hand von Männern ist, wird es weder eine Debatte über sexuelle Verbrechen geben, noch wird ein Gericht darüber befinden. Diejenigen, die darüber berichten könnten, werden als »unsittlich« und »verlogen« hingestellt. Um zu überleben, müssen sich die Opfer verstecken.
    Die einzige Frau, die dem Nationalen Übergangsrat angehört, die Juristin Salwa al-Dajili, hat mir lange zugehört, als ich ihr von Soraya berichtete.
    »Wie mutig die Kleine ist!«, meinte sie dann. »Es ist so wichtig, dass ihre Geschichte bekannt wird. Denn sie zeigt das wahre Gesicht des Mannes, der Libyen zweiundvierzig Jahre lang geführt hat. Genauso hat er sein Volk regiert, verachtet, unterworfen. Es braucht Vorkämpferinnen wie Soraya, damit jemand es wagt, die Tragödie der Frauen und das, was dieses Land tatsächlich durchgemacht hat, beim Namenzu nennen. Aber dadurch, dass sie ihr Schweigen bricht, setzt sie sich großen Gefahren aus.« Mit traurigem Gesicht, das umhüllt ist von einem blassrosa Schleier, notiert Salwa al-Dajili sich etwas, während das iPhone in ihrer Louis-Vuitton-Tasche vibriert. »Das Thema ist tabu, das wird man Ihnen schon gesagt haben. Ich wünsche mir mit all meiner Kraft, dass man Soraya beschützen möge, sie ist eindeutig ein Opfer. Und davon gibt es noch so viele andere. Aber ich kann mich nicht dafür einsetzen, eine solche Angelegenheit offiziell zu machen.«
    Niemand wird das tun. Und auf der ganzen Welt werden Frauen weiterhin schweigen. Schamhafte Opfer eines Verbrechens, das ihren Körper zu einem Machtobjekt oder zu einer Kriegsbeute macht. Sie sind die Zielscheibe von Raubtieren, denen unsere Gesellschaften, von den barbarischsten bis zu den höchstentwickelten, immer noch eine erbärmliche Nachsicht entgegenbringen.
    *
    Bevor ich Tripolis im März 2012 verließ, wollte ich ein letztes Mal das Gelände von Bab al-Aziziya besichtigen. Viel war nicht mehr übrig geblieben von dem, was so lange Zeit als Symbol für die absolute Macht des Herrschers von Libyen stand. Die Bulldozer hatten die Mauern dem Erdboden gleichgemacht, die meisten Gebäude waren abgerissen und die Residenz in einen Haufen aus Steinen, Beton und Blech verwandelt. Nach der letzten Schlacht waren ganze Scharen hergekommen, um die Stätte zu plündern – nichts, wirklich gar nichts mehr erinnerte daran, dass hier Menschen gelebt hatten. Rauch stieg aus den Bergen von Abfällen auf, die die Bevölkerung inzwischen hier entsorgte, da es keine organisierte Müllbeseitigung gab, und die Palmen, die um ein mitBrackwasser gefülltes Schwimmbad standen, wirkten grau. Der Himmel war bleiern, Raben, die sich auf den Mauerresten niedergelassen hatten, wachten über diesen Ort der Katastrophe, an dem ich ziellos umherlief. Die Orientierungspunkte, die ein ehemaliger Wächter Gaddafis erwähnt hatte, waren zerstört. Ich war verloren. Egal. Ich ging weiter, auf der Suche nach irgendeinem Indiz in dieser Kulisse aus Mineralien, das an Soraya erinnerte.
    Ich begegnete einem Rebell, der das Gelände durchkämmte – vielleicht bewachte er es auch – und mir den Eingang zu einem Souterrain zeigte. Ein paar Zementstufen führten hinab zu einer riesigen grünen Panzertür, wie von einem Tresor, dahinter erstreckte sich ein scheinbar endloser Tunnel, durch den der Mann mich einige hundert Meter mit seiner Taschenlampe führte. Als ich am Tunnelausgang über mehrere Brocken von Beton stieg, bemerkte ich zwischen zwei Steinen und einer verkohlten Kalaschnikow das Überbleibsel einer Kassette. Es war seltsam und absurd. Der Titel war auf Arabisch geschrieben und nicht mehr vollständig zu lesen, und als ich meinen Fund dem Rebell hinhielt,
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