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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Autoren: Annick Cojean
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hatte mich dort abgesetzt, nach einer kurzweiligen Fahrt, während der er mit viel Humor die Gaddafi-Karikaturen kommentierte, die überall in der Stadt auf Mauern und Häuserwände gemalt waren. Es waren Bilder, die groteske Figuren zeigten: Gaddafi, mal lüstern, dann blutrünstig, mit zotteligen Haarbüscheln – und oft als Frau verkleidet.
    »Wissen Sie, warum sie ihn so gemalt haben?«, fragte mich der junge Fahrer, ein Ex-Rebell, als mich ein Bild besonders zum Lachen brachte, das den Diktator in einem grünen Négligé, mit einer Perlenkette um den Hals, geschwungenen falschen Wimpern und scharlachroten Lippen zeigte. »Er war schwul! Er hat von seinen jungen Wachmännern verlangt, dass sie als Frauen verkleidet für ihn tanzen!«
    Die unverblümte Art, wie er das sagte, verblüffte mich mehr als die Information selbst, die ich ja schon von Soraya und einem ehemaligen Aufpasser in Bab al-Aziziya bekommen hatte, dessen junger Kollege voller Scham bei solchen Spektakeln mitmachen musste.
    Mohammed al-Alagi erwartete mich bei einem Pfefferminztee und in Begleitung eines befreundeten Anwalts. Ehemaliger Interimsjustizminister, heute Präsident des Höchsten Rates der öffentlichen Freiheit und der Menschenrechte in Libyen, hatte er lange Zeit die Leitung der Anwaltskammerin Tripolis innegehabt und den Respekt von Kollegen und Beobachtern ausländischer Nichtregierungsorganisationen genossen, mit denen er immer in Kontakt stand. Er war klein, hatte eine Schirmmütze auf dem Kopf, wie sie englische Gentlemen zu tragen pflegen, und ein rundes, sanftes Gesicht mit schmalem Schnurrbart und lebhaften Augen, aus denen Offenheit sprach. Er war zumindest kein Mann, der leere Phrasen zu dreschen pflegte. Was für ein Kontrast zu den Gesprächen, die ich zuvor mit Leuten geführt hatte, die nicht über ihren Bauchnabel hinaussehen konnten, weil ihnen ihre neue Macht zu Kopf gestiegen war!
    »Gaddafi hat vergewaltigt«, sagte Mohammed al-Alagi. »Er selbst hat vergewaltigt, in großem Ausmaß, und er hat Vergewaltigungen angeordnet. Männer wie Frauen waren davon betroffen. Er war ein sexuelles Monster, pervers und sehr gewalttätig. Schon früh waren mir Zeugenberichte zu Ohren gekommen. Rechtsanwältinnen, die selbst vergewaltigt wurden, haben sich mir als Freund und als Mann des Gesetzes anvertraut. Sie haben ihr Leid mit mir geteilt, aber ich konnte nichts tun. Sie trauten sich nicht, beim Generalstaatsanwalt vorzusprechen. Eine Strafanzeige zu erstatten wäre ihr Todesurteil gewesen. Haben Sie im Internet die Videos der grausamen Exekutionen einiger Offiziere gesehen, die es gewagt hatten, sich gegen die Vergewaltigung ihrer Frauen durch den Führer aufzulehnen? Dieser Typ war ein Barbar!« Er schüttelte den Kopf, schien in sich zusammengesunken, umfasste mit beiden Händen das Glas mit dem kochend heißen Tee. »Selbst in den letzten Tagen seines Lebens, als er verfolgt wurde und mittellos war, hielt er sich nicht zurück. Er hat Jungen im Alter von siebzehn Jahren vor seinen Wachleuten sexuell belästigt. Egal, wo er war! Auf brutale Art und Weise!Wie ein Fuchs! Wir haben übereinstimmende Zeugenaussagen. Und ich weigere mich, im Gegensatz zu einigen anderen, in diesem Zusammenhang von seiner Privatsphäre zu sprechen. Es geht hier nicht um einen Liebesakt, sondern um begangene Verbrechen. Und Vergewaltigung ist für mich das schlimmste aller Verbrechen.«
    Ich erzählte ihm von Soraya, von dem Kellergeschoss, von allem, was sie in der Vergangenheit durchgemacht hatte, von ihrer augenblicklichen Verzweiflung. Es tat mir gut, darüber mit jemandem zu reden, der wohlwollend zuhörte. Ich habe während meiner Recherchen ununterbrochen an sie gedacht. Mohammed al-Alagi folgte meinen Ausführungen nickend. Er zweifelte keinen Moment daran, dass sie zutrafen. Es imponierte ihm, dass Soraya die Kraft gefunden hatte, darüber zu sprechen.
    »Ich möchte, dass man jedem einzelnen Opfer Gaddafis Gerechtigkeit widerfahren lässt«, sagte er. »Das wäre das Mindeste. Das muss ein erklärtes Ziel dieses neuen Regimes sein. Ich möchte Untersuchungen dazu, öffentliche Anhörungen, Verurteilungen, Wiedergutmachungen. Um vorwärtszukommen, die Gesellschaft wieder zusammenzuführen, einen Staat aufzubauen, muss das libysche Volk wissen, was sich zweiundvierzig Jahre lang abgespielt hat. Hinrichtungen durch den Strang, Folterungen, Freiheitsberaubungen, Massenmorde, sexuelle Verbrechen jeder Art. Niemand macht sich eine Vorstellung
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