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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Autoren: Annick Cojean
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Unterschlagung der Einnahmen aus der Ölförderung, Isolierung des Landes auf internationaler Ebene ... Warum diese »persönliche Rechnung« der Frauen? Hatte der Autor des Grünen Buches nicht unentwegt die Gleichheit von Mann und Frau proklamiert? Hatte er sich nicht systematisch als ihr konsequenter Verteidiger präsentiert? Das gesetzlich erlaubte Heiratsalter auf zwanzig Jahre erhöht, Polygamie und Missbräuche der patriarchalischen Gesellschaft verurteilt, einer geschiedenen Frau weit mehr Rechtezuerkannt als in vielen anderen muslimischen Ländern üblich, für interessierte Bewerberinnen aus der ganzen Welt eine Militärakademie für Frauen gegründet? »Nichts als Geschwätz, Heuchelei, Mummenschanz«, sagte mir eine namhafte Juristin später. »Wir alle waren potentiell seine Beute.«
    Zu dieser Zeit begegnete ich Soraya. Unsere Wege kreuzten sich am Morgen des 29. Oktober. Ich war im Begriff, meine Recherche abzuschließen, wollte Tripolis tags darauf verlassen und via Tunesien nach Paris zurückfliegen. Ich tat es mit Bedauern. Sicher, meine erste Frage über die Beteiligung der Frauen an der Revolution war beantwortet, ich kehrte mit einer Fülle von Geschichten und ausführlichen Berichten zurück, die ein anschauliches Bild ihres Kampfes ergeben würden. Aber so viele Rätsel waren ungelöst geblieben! Die massenweise von Gaddafis Söldnern und hohen Militärs begangenen Vergewaltigungen waren ein unüberwindliches Tabu, über das Behörden, Familien und Frauenverbände feindselig schwiegen. Selbst der Internationale Strafgerichtshof stieß bei einer von ihm eingeleiteten Ermittlung auf die allergrößten Schwierigkeiten, mit Opfern zusammenzutreffen. Und was das in der Zeit vor der Revolution von den Frauen erfahrene Leid anging, davon sprach man, unter zahlreichen Seufzern und ausweichenden Blicken, nur in Form von Gerüchten. »Was bringt es, sich an so demütigende Praktiken und so unverzeihliche Verbrechen immer und immer wieder zu erinnern?«, sollte ich oft zu hören kriegen. Nie eine Aussage in der ersten Person. Nicht ein einziger Opferbericht, der den Führer in Frage stellte.
    Und dann kam Soraya. Sie trug ein schwarzes Tuch, das eine zu einem Knoten geschlungene Masse dicker Haare umhüllte,eine große Sonnenbrille, eine locker ihre Gestalt umfließende weite Hose. Ihre vollen Lippen verliehen ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit Angelina Jolie, und wenn sie lächelte, blitzte plötzlich ein Funken Kindheit in ihren Augen auf und erhellte ihr schon vom Leben gezeichnetes schönes Gesicht. »Wie alt schätzen Sie mich?«, fragte sie und nahm ihre Brille ab. Angstvoll wartete sie auf die Antwort, dann aber kam sie mir zuvor: »Ich fühle mich wie vierzig!« Was ihr sehr alt erschien. Sie war zweiundzwanzig.
    Es war ein strahlend heller Tag im aufgewühlten Tripolis. Muammar Gaddafi war seit über einer Woche tot. Der Nationale Übergangsrat hatte offiziell die Befreiung des Landes verkündet. Und auf dem Grünen Platz, der nun wieder seinen ursprünglichen Namen Platz der Märtyrer trug, hatte sich am Abend zuvor erneut eine euphorische Menschenmenge versammelt, die in einem Konzert von Revolutionsgesängen und Salven aus Kalaschnikows immer wieder »Allah!« und »Libyen!« skandierte. Jedes Stadtviertel hatte ein Dromedar gekauft und vor einer Moschee geschlachtet, um es mit Flüchtlingen aus den vom Krieg verwüsteten Städten zu teilen. Man fühlte sich »eins« und miteinander »solidarisch« und »glücklich wie seit Menschengedenken nicht«. Auch sehr erschöpft, natürlich. Unfähig, am nächsten Tag zur Arbeit und zu einem normalen Lebensrhythmus zurückzukehren. Libyen ohne Gaddafi ... unvorstellbar.
    Buntgeschmückte Autos mit wehenden Fahnen fuhren noch immer kreuz und quer durch die Stadt, über und über beladen mit Rebellen: auf der Motorhaube sitzend, dem Dach, in den Wagentüren stehend. Sie hupten, reckten jeder seine Waffe hoch wie eine treue Gefährtin, die man mitnimmt zum Fest, die es verdient, geehrt zu werden. »AllahAkbar!«, brüllten sie, hielten sich umschlungen, machten das V-Zeichen des Sieges, ein rot-schwarz-grünes Tuch in Piratenmanier um den Kopf gewunden oder als Binde um den Arm, und was machte es schon, dass nicht alle von ihnen von der ersten Stunde an oder mit dem gleichen Mut gekämpft hatten. Seit dem Fall von Sirte, der letzten Bastion des Führers, und seiner atemberaubend schnellen Hinrichtung erklärte jeder sich zum Rebellen.
    Soraya beobachtete
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