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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Autoren: Annick Cojean
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sie von weitem, und in ihrem Blick lag Trauer.
    War es diese Atmosphäre lärmender Fröhlichkeit, die ihr Unbehagen, das sie seit dem Tod des Führers empfand, noch bitterer machte? War es die Glorifizierung der »Märtyrer« und der »Helden« der Revolution, die sie selbst auf ihren traurigen Status des geheimen, unerwünschten, schmachvollen Opfers verwies? Wurde ihr die Katastrophe ihres Lebens mit einem Mal in ihrem vollen Ausmaß bewusst? Sie hatte keine Worte dafür, sie konnte es nicht erklären. Sie spürte nur den brennenden Schmerz des Gefühls absoluter Ungerechtigkeit. Die Verzweiflung darüber, dass sie ihr Leid nicht ausdrücken, ihre Empörung nicht herausschreien konnte. Die panische Angst, dass ihr Unglück in Libyen unhörbar und folglich unerzählbar bleiben würde. Das durfte nicht sein. Das war unmoralisch.
    Sie biss in ihren Schal und zog ihn nervös vor die untere Hälfte ihres Gesichts. Tränen schossen ihr in die Augen, die sie rasch wegwischte. »Muammar Gaddafi hat mein Leben zerstört.« Sie musste sprechen. Erinnerungen, zu schwer, um sie ertragen zu können, lasteten auf ihrem Gedächtnis. »Die Beschmutzung«, sagte sie, bereite ihr immer wieder Alpträume. »Was sollte ich auch erzählen, niemand wird jemalserfahren, woher ich komme, noch was ich erlebt habe. Niemand wird sich davon auch nur eine Vorstellung machen können. Niemand.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Als ich Gaddafis Leichnam in der Öffentlichkeit ausgestellt sah, empfand ich eine kurze Freude. Dann aber spürte ich im Mund einen scheußlichen Geschmack. Ich hätte gewollt, dass er lebt. Dass er festgenommen und vor ein internationales Gericht gestellt worden wäre. Ich wollte Rechenschaft von ihm fordern.«
    Denn Soraya war Opfer. Eines jener Opfer, von denen die libysche Gesellschaft nichts hören will. Jener Opfer, deren Schmach und Demütigung auf der ganzen Familie und darüber hinaus auf der gesamten Nation lastet. Jener so unliebsamen, störenden Opfer, die man einfacherweise gern zu Schuldigen erklären würde. Schuldig, Opfer geworden zu sein ... Das aber lehnte Soraya von der Höhe ihrer zweiundzwanzig Jahre mit aller Entschiedenheit ab. Sie träumte von Gerechtigkeit. Sie wollte als Zeugin aussagen. Was man ihr angetan hatte, ihr und all den anderen, erschien ihr weder harmlos noch verzeihlich. Ihre Geschichte? Sie wird sie selbst erzählen: die Geschichte einer gerade erst Fünfzehnjährigen, die Muammar Gaddafi bei einem Besuch ihrer Schule entdeckt und die schon tags darauf entführt wird, um mit einigen anderen die Sexsklavin des Diktators zu werden. Für mehrere Jahre in der befestigten Residenz von Bab al-Aziziya eingeschlossen, war sie dort geschlagen, vergewaltigt, allen Perversionen eines sexbesessenen Despoten ausgeliefert gewesen. Er hatte ihr ihre Jungfräulichkeit und ihre Jugend geraubt und ihr damit jede Möglichkeit auf eine achtbare Zukunft in der libyschen Gesellschaft genommen. Sie sollte es bald schmerzhaft erfahren. Nachdem ihre Familie sie anfänglichbeweint und beklagt hatte, betrachtet sie sie heute als Schlampe. Als unrettbar verloren. Sie rauchte. Passte in keinen Rahmen mehr. Wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Ich war entsetzt.
    Erschüttert von Sorayas Schicksal bin ich nach Frankreich zurückgekehrt. Und auf einer Seite von Le Monde habe ich ihre Geschichte erzählt, ohne ihr Gesicht zu zeigen oder ihre Identität zu enthüllen. Viel zu gefährlich. Man hatte ihr ohnehin schon genug Leid angetan. Aber der Beitrag wurde übernommen und in der ganzen Welt übersetzt. Zum ersten Mal gelangte der Zeugenbericht einer der jungen Frauen aus Bab al-Aziziya, diesem geheimnisumgebenen Ort, an die Öffentlichkeit. Auf gaddafistischen Websites wurde ihm heftig widersprochen, voller Empörung darüber, dass er das Bild ihres Helden beschmutzte, von dem es doch hieß, dass er so viel getan hatte, um die Frauen zu »befreien«. Andere Stimmen, die sich gleichwohl keine Illusionen über die Sitten des Führers machten, fanden den Bericht so ungeheuerlich, dass sie ihn kaum glauben wollten. Die internationalen Medien versuchten Soraya ausfindig zu machen. Vergeblich.
    Ich zweifelte keinen Augenblick an dem, was sie mir erzählt hatte. Denn bald kamen mir ganz ähnliche Geschichten zu Ohren, die mir bewiesen, dass es noch viele andere Sorayas gab. So erfuhr ich, dass Hunderte junger Frauen für eine Stunde, eine Nacht, eine Woche, ein Jahr oder länger entführt und, gewaltsam oder
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