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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Autoren: Annick Cojean
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OnkelchenMuammar«, aber die Lehrer sprachen von ihm wie von einem Halbgott. Nein, einem Gott. Er war gütig, er wachte über seine Kinder, er hatte jede Macht. Wir mussten ihn alle »Papa Muammar« nennen. Er erschien uns von riesiger Statur.
    Aber der Umzug nach Sirte, um näher an der Familie dran zu sein und stärker integriert in eine Gemeinschaft, hat uns nichts gebracht. Die Leute in Sirte bildeten sich dermaßen viel auf ihre Verwandtschaft oder doch die Nähe zu Gaddafi ein, dass sie sich als die Herren der Welt fühlten. Aristokraten sozusagen, die bei Hofe verkehrten, im Unterschied zum Pöbel und den Provinzeiern aus den anderen Städten. Ihr seid aus Zliten? Grotesk! Aus Bengasi? Lächerlich. Aus Tunesien? O Schande! Und besonders Mama – was auch immer sie tat, war ein Grund, sie zu schmähen. Und als sie im Stadtzentrum, nicht weit von unserem Wohnhaus in der Dubai-Straße, einen schicken Salon eröffnete, in dem sich bald die feinen Damen von Sirte drängten, verachtete man sie erst recht. Talent allerdings gestand man ihr zu. Alle Welt anerkannte ihr Geschick, die schönsten Frisuren der Stadt zu machen sowie traumhafte Make-ups. Ich bin sogar sicher, dass man sie beneidete. Aber Sie ahnen ja nicht, wie sehr Sirte von der Tradition und der Prüderie geprägt ist. Eine nicht verschleierte Frau kann auf offener Straße beschimpft werden. Und selbst mit Schleier macht sie sich verdächtig. Was, zum Teufel, hat sie draußen zu suchen? Ist sie vielleicht auf Abenteuer aus? Oder hat sie etwa ein Verhältnis? Die Leute spionieren sich gegenseitig hinterher, Nachbarn beobachten, wer im Haus gegenüber ein und aus geht, die Familien beargwöhnen sich untereinander, die eigenen Töchter beschützt man, über die anderen tratscht man. Die Gerüchteküche ruht nie.
    In der Schule hatte ich doppelt zu leiden. Nicht nur war ich »die Tochter der Tunesierin«, sondern außerdem noch »das Mädchen aus dem Frisiersalon«. Ich musste ganz allein auf einer Bank sitzen, immer abseits von den anderen. Ich habe nie wieder eine libysche Freundin gefunden. Ein wenig später habe ich mich zum Glück mit der Tochter eines Libyers und einer Palästinenserin angefreundet. Dann mit einer Marokkanerin. Danach mit der Tochter eines Libyers und einer Ägypterin. Aber nie mit Mädchen aus der Gegend. Einmal habe ich gelogen und gesagt, meine Mutter sei Marokkanerin, weil mir das weniger schlimm erschien als Tunesierin. Aber es war viel schlimmer. Also spielte sich mein Leben im Wesentlichen im Frisiersalon ab. Der wurde zu meinem Reich.
    Gleich nach Schulschluss lief ich hin. Und dort lebte ich auf. Was für einen Spaß ich hatte! Einmal, weil ich Mama helfen konnte, und das war ein wunderschönes Gefühl. Und dann, weil diese Arbeit mir gefiel. Meine Mutter hatte alle Hände voll zu tun und rannte von einer Kundin zur anderen, selbst bei den vier Angestellten, die sie hatte. Wir machten Frisuren, Gesichtspflege und Make-up. Und ich sage Ihnen, mögen die Frauen in Sirte sich noch so sehr mit ihren Schleiern verhüllen, sie sind trotzdem unglaublich anspruchsvoll und kokett. Meine Aufgabe war das Epilieren des Gesichts und der Augenbrauen mit einem Seidenfaden, ja, einem einfachen Faden, den ich durch meine Fingern schlang und sehr schnell spannte, um jedes einzelne Haar zu erwischen. Viel besser als Pinzette oder Wachs. Ich bereitete auch die Gesichtshaut für das Schminken vor, trug das Makeup auf, dann übernahm meine Mutter und machte sich an die Augen, bis sie schließlich rief: »Soraya! Den Schlussstrich!«Dann kam ich und legte Lippenstift auf, kontrollierte alles noch einmal und fügte einen Hauch Parfum hinzu.
    Der Salon wurde sehr bald der Treffpunkt der weiblichen Schickeria der Stadt. Und damit auch des Gaddafi-Clans. Wenn in Sirte große internationale Gipfeltreffen stattfanden, kamen die Frauen der einzelnen Delegationen und ließen sich hübsch machen, die afrikanischen Präsidentengattinnen, die Ehefrauen der europäischen und der amerikanischen Staatsoberhäupter. Komisch, ich erinnere mich ausgerechnet an den Staatschef von Nikaragua, der wünschte, wir sollten ihm die Augen riesengroß schminken ... Eines Tages kam Judia, die Protokollchefin der Gattin des Führers, um Mama im Auto abzuholen, sie sollte ihre Herrin frisieren und schminken. Der Beweis, welchen Ruf sich Mama erworben hatte! Also ist sie mitgegangen, hat sich mehrere Stunden mit Safia Farkash beschäftigt, wurde aber mit einer lächerlichen Summe
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