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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Autoren: Annick Cojean
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flüsterte eine der beiden Frauen, ohne eine Spur des Bedauerns.
    Ein Anwalt aus Misrata bestätigte mir den Vorfall. »Viele Libyer haben sich durch diese symbolische Geste gerächt gefühlt! Bevor er sterben durfte, wurde der Vergewaltiger vergewaltigt.«

Epilog
    Der Sommer hat schnell wieder Einzug in Tripolis gehalten, während der Winter in Paris in einen eiskalten Frühling überging. Zumindest kam es mir so vor. Der Himmel war grau, die Wolken hingen tief, der Regen war zum Verzweifeln, der Horizont nicht zu sehen. Ich erwischte mich dabei, für kurze Augenblicke zu bedauern, nicht vor Ort geblieben zu sein, im hellen Sonnenlicht, mit Blick auf das Mittelmeer, um Sorayas Geschichte und das Geheimnis Gaddafis aufzuschreiben, über das – noch – niemand sprach. In Wahrheit bin ich vor zu viel Druck und Anspannung geflüchtet, vor ungesundem Stillschweigen und vergifteten Vertraulichkeiten. Ich musste dringend Abstand gewinnen und meine Notizen lesen: in sicherer Entfernung von Libyen und von der Angst, die meine Gesprächspartnerinnen fortwährend quälte. Aber die Distanz war natürlich relativ. Wenn ich auch in Paris schrieb, so war ich in Gedanken doch in Tripolis, und ich lauerte ängstlich auf eine Nachricht von Soraya. Sie tastete sich voran, stolperte, war deprimiert, dann wieder voller Hoffnung, kindisch, ohne jede Disziplin und wusste nicht, was sie mit ihrer Vergangenheit, die sie nicht losließ, machen sollte. Das Wort »Zukunft« hatte für sie noch keinen Sinn. Ihre Alltagsobsession bestand im Rauchen, im Rauchen von drei Päckchen Slim-Zigaretten, ohne die sie nicht mehr auskam. Mich packte die Wut, wenn ich an die Szene zurückdachte,wie der Tyrann ihr gewaltsam die erste Zigarette in den Mund geschoben hatte. »Atme ein! Schluck den Rauch runter! Schluck runter!«
    Die täglichen Recherchen im Internet machten mir das Ausmaß der wachsenden Ungeduld der Libyer gegenüber ihrer Übergangsregierung deutlich. Die Förderung von Erdöl verlief gewohnheitsmäßig, und seine Produktion hatte beinahe das Niveau vorrevolutionärer Zeiten erreicht. Aber das Volk profitierte davon nicht. Das ganze Land schien in einem Schwebezustand. Es gab weder eine rechtsgültige Regierung noch einen Gesetzgeber, noch Provinzgouverneure, noch nationale Streitkräfte, noch eine Polizei, noch Gewerkschaften – kurz: es gab keinen Staat. Die öffentlichen Einrichtungen waren in Vergessenheit geraten, die Krankenhäuser schlecht ausgestattet, der Korruptionsverdacht allgegenwärtig. Die Milizen, die sich aus Exrebellen zusammensetzten, waren weit davon entfernt, sich zu zerstreuen oder in eine nationale Struktur zu integrieren; sie festigten ihre Macht, indem sie eigene Regeln erließen und eifersüchtig über ihre Gefangenen wachten, die sie an unzähligen, über das ganze Territorium verteilten Orten festhielten. Es kam zu Schlägereien zwischen ihren Mitgliedern, ganz zu schweigen von dem plötzlichen Auftauchen völlig neuer Konflikte im Zusammenhang mit Grundbesitz. Ein hübsches Vermächtnis von Gaddafi: Er hatte Ende der 1970er Jahre eine Vielzahl von Grundstücken, Immobilien, Fabriken und Villen verstaatlicht. Auf einmal erschienen die einstigen Besitzer auf der Bildfläche, zogen Urkunden und Papiere aus der Tasche, die aus der Zeit der italienischen Besatzung oder gar der osmanischen Ära datierten, und fordertenihr Eigentum umgehend zurück – und sei es mit Waffengewalt.
    Und die Frauen? Sie waren vielleicht der einzige Hoffnungsschimmer. Sie hoben die Köpfe, ihre Stimmen wurden lauter, sie forderten endlich ihren Platz in der Gesellschaft ein. Sie spürten, dass ihnen Flügel wuchsen, sie zeigten Wagemut. Sie hatten die Revolution massiv unterstützt, hatten dazu beigetragen, ihr Rechtmäßigkeit und ein Fundament zu geben. Jetzt wollten sie die Früchte ernten, und zwar in Form von Freiheit, Mitsprache und Interessenvertretung. Man durfte sie nicht mehr außen vor lassen!
    »Es ist wie nach den Weltkriegen!«, erklärte mir Ala Murabit, eine brillante Medizinstudentin, Tochter von Dissidenten, die in Kanada aufgewachsen, jedoch vor sieben Jahren nach Libyen zurückgekehrt war. »Die Frauen sind ihrer Angst und den Gefahren entgegengetreten, sie haben Verantwortung übernommen. In Abwesenheit der Männer mussten sie zwangsläufig ihre Häuser verlassen, in denen sie oft eingesperrt waren, und nun haben sie Geschmack daran gefunden, aktive Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Es ist Schluss damit, uns
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