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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Autoren: Annick Cojean
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wie Bürger zweiter Klasse zu behandeln! Wir haben Rechte. Und wir werden uns Gehör verschaffen!«
    Die Gaddafi-Ära bescherte den Frauen zumindest – nachdem das militärische Training, dem sie sich in der Schule unter Anleitung von männlichen Ausbildern unterziehen mussten, mit einem Tabu gebrochen und die Eltern überzeugt hatte, dass sie ohne allzu großes Risiko mit Männern in Kontakt kommen durften – den Zugang zu den Universitäten. Die jungen Mädchen stürzten sich, mit großem Erfolg, in ein Medizin- oder Jurastudium und brachten die besten Notennach Hause. Die Frustration allerdings, wenn sie anschließend feststellten, dass sie keine glanzvolle Karriere aufbauen konnten, war umso größer. Wehe denen, die dachten, sie könnten sich von der Masse abheben, die eine herausragende Position anstrebten und in irgendeiner Weise sichtbar werden wollten – Gaddafi und seine Clique (Befehlshaber, Gouverneure, Minister) lauerten überall. Wenn eine Frau ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte, bedienten sie sich ihrer schamlos. Sie wurde vergewaltigt, entführt, zwangsverheiratet.
    »Sie können sich nicht vorstellen, wie groß die Angst der Mädchen davor war, zu brillant zu erscheinen, zu intelligent, zu begabt oder zu hübsch«, bemerkte die aus Bengasi stammende Juristin Hannah al-Galal mir gegenüber. »Sie hielten sich zurück, in der Öffentlichkeit das Wort zu ergreifen, sie schlugen renommierte Posten aus und beschränkten sich in ihren Ambitionen. Sie verzichteten sogar auf jeglichen Kleidungsstil, haben sich ihre kurzen Röcke und die Blusen abgewöhnt, die in den sechziger Jahren modern waren, nur um wieder einen Schleier und weite Kleidung zu tragen, die ihren Körper verhüllte. Die goldene Regel lautete: ›Low profile‹. In den Versammlungen und Sitzungen wirkten die Frauen wie Phantome.«
    Diese Epoche war definitiv überwunden. Oder vielmehr: Die Frauen hofften, dass sie überwunden war. Im Post-Gaddafi-Libyen fanden sie wieder zu ihren Ambitionen zurück – in professioneller, ökonomischer und politischer Hinsicht –, waren sich jedoch bewusst, dass sich die Mentalität trotz allem nicht von heute auf morgen wandeln würde. Eine alte Garde war auf der Hut. Das beweist die berühmte Rede, die MustafaAbdul Jalil, Vorsitzender des Nationalen Übergangsrates, am 23. Oktober 2011 hielt, dem Tag der offiziellen Verkündung der Befreiung des Landes. Abertausende Menschen waren gekommen, um der Zeremonie beizuwohnen, die nur drei Tage nach dem Tod des Diktators auf dem größten Platz von Bengasi stattfand. Im ganzen Land versammelten sich angesichts dieses bedeutenden Ereignisses aufgewühlte Familien vor Millionen von Bildschirmen. Jeder hielt den Atem an. Und die Frauen, ohne es auszusprechen, erwarteten eine Geste, eine Erwähnung der vergangenen Schmach, vielleicht sogar eine Würdigung. Doch es war ein einziges Fiasko.
    Es wurde kein Wort darüber verloren, was sie durchlitten hatten, was sie zur Revolution beigetragen hatten. Keine Andeutung, welche Rolle sie im neuen Libyen spielen würden. Ach, doch! Ich vergaß: Es wurden kurz die Mütter, Schwestern oder Töchter der großartigen Kämpfer erwähnt, denen das Land so viel schuldete. Und es gab die Ankündigung, dass, aus Respekt gegenüber der Scharia, die ab sofort die höchste Instanz in Rechtsangelegenheiten darstelle, die Polygamie nicht weiter durch die von Gaddafi eingeführte Verpflichtung der Männer erschwert werde, ihre erste Frau um Erlaubnis zu bitten, eine zweite zu ehelichen. Das war alles. Eine Ohrfeige für alle Frauen, die die Zeremonie von Beginn an aufmerksam verfolgten und vergeblich nach einer weiblichen Gestalt auf den offiziellen Tribünen Ausschau hielten, wo sich jede Menge Männer in Anzug und Krawatte tummelten und stolz aufplusterten, weil sie die politische Nachfolge verkörperten.
    »Ich war schockiert, wütend, empört!«, gab Naima Jebril, Richterin am Berufungsgericht von Bengasi, wenig später im Gespräch mit mir zu. »Was für eine katastrophale Rede! Siekönnen mir glauben: Danach habe ich geweint.« Dafür sollten sie alles gegeben haben? »Wenn ich bedenke, wie sehr unsere Mütter und Großmütter für das Recht auf Ausbildung, auf Arbeit, auf respektvolle Behandlung gekämpft haben! Wie viel Energie wir auf unser Studium verwendet haben, um Diskriminierungen zu überwinden und unsere Berufe frei ausüben zu können. Dann der hundertprozentige Einsatz für die Revolution, vom ersten Tag an, als die
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