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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug
Autoren: Marieke Pol
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    Die Nachricht von Franks Tod erreicht die drei Frauen fast gleichzeitig. Einen Moment lang scheint es, als würde der Wind den Geruch von blutrotem Wein herantragen, sodass ihnen schwindelig wird und sie nach Halt suchend um sich greifen. Ich muss zur Beerdigung gehen, denken sie alle drei, es gehört sich einfach so, dass ich dort bin. Von allen Menschen ist es vielleicht am allerwichtigsten, dass
ich
da bin.
     
    Im Brautatelier in Auckland ist es noch dunkel, als die Todesanzeige zusammen mit der restlichen Post auf die Türmatte fällt. Die Schaufensterpuppen in Brautkleidern stehen im Dunkeln, elegant und leblos. Vor den Fenstern hängen die schweren, blauen Samtgardinen, dahinter üppig gefalteter Tüll, wodurch das Tageslicht und die Straßengeräusche Tag und Nacht abgehalten werden. Ein Schaufenster gibt es nicht, auf zufällige Laufkundschaft ist man hier nicht angewiesen. Kurz darauf kommt Esther aus ihrem Zimmer hinter dem Atelier herein. Sie räuspert sich, ihre erste Zigarette hat sie bereits hinter sich. Sie ist wie immer zu spät aufgestanden, eine schlechte Schläferin, die immer erst in den Morgenstunden einschlafen kann, wenn ihr Geist den Kampf gegen das kindliche Vertrauen, das der Schlaf von einem verlangt, aufgibt. Lady Esther Bridal öffnet erst um zehn Uhr, ihre Kunden wissen das. Sie bückt sich ächzend, oh dear, und steckt einen Stecker in die Steckdose. An der Decke gehen, eine nach der anderen, aufflackernd die Neonröhren an, dazu ertönt ein summendes Geräusch. Dann drückt sie mit ihrem beringten Zeigefinger die Knöpfe der Musikanlage. Dezente, leise Berieselungsmusik tönt durch den Raum, ein heiterer Samba. Sie pfeift mit, ein tiefer, heiserer Ton, nicht wirklich sauber,
Mas Que Nada
, während sie über den dicken blauen Teppich durch ihren Laden geht und überall die Lampen anknipst, bis der Raum in einer Kombination aus Neon- und Kronleuchterlicht gebadet ist. Trotz ihres Alters und der frühen Uhrzeit ist sie theatralisch in einen Rock und eine Bluse gekleidet, die sie im letzten Herbst aus einem violettschwarzen Baumwolljersey geschneidert hat, einem Stoff, den sie auch verkauft. Um ihren Hals herum zeugen drei breite, rosa Perlenketten von Lebenslust. Sie betrachtet sich gern im Spiegel und schminkt sich noch immer sorgsam, auch wenn es in letzter Zeit gelegentlich vorkommt, dass sie wegen ihrer schlechten Augen die Augenbrauen mit dem Lippenkonturenstift nachzeichnet. Ihre Haare lässt sie alle drei Wochen mahagonirot färben, sie kämmt sie stramm nach hinten – »my natural face-lift, dear« – und steckt sie dort mit einem Hornkamm zusammen. Ihre Lippen sind umrandet und bemalt, zu jeder Tageszeit, immer. Es gibt niemanden, den sie küssen müsste; in ihrer Welt küsst man in die Luft. Heute haben ihre Lippen einen auberginefarbenen Unterton, passend zum Violett.
    Wie jeden Morgen geht sie zu den Schaufensterpuppen, die zu beiden Seiten des breiten Durchgangs aufgestellt sind. Kunststoff-Frauen, die leicht den Kopf neigen und alle
ihre
Brautkleider tragen,
ihre
Kreationen. Sie schiebt hier und da ein Satinbändchen über eine glatte Schulter zurück oder streicht einen imaginären Knick aus dem Tüll mit den Spitzenapplikationen. Truppeninspektion, nennt sie das. Hinter den Puppen stehen Kleiderständer mit den übrigen Damenkleidern – es sind schon so unendlich viele, und dennoch kann sie nicht genug kriegen –, und die losen, schweren Stoffe müssen aushängen. Überall im Raum stehen dunkle Holzvitrinen, in denen Dutzende von Accessoires sortiert liegen: Brautkorsagen, Brauthüte, Handschuhe, Strumpfhosen, Unterwäsche, Pailletten, Juwelen und Perlen, Federn, Spitze und Satinbänder, Diademe, Colliers und Ohrringe – allein hundert verschiedene Paar Ohrringe. Esther beherrscht ihre Materie, sie weiß bei jedem Einzelteil, wo es sich befindet, weil sie es dort selbst mit größter Sorgfalt platziert hat. Es ist eine totenstille Traumwelt, in der sie sich bewegt, doch ihre Bewegungen sind entschlossen, ein normaler Arbeitstag in ihrem Laden beginnt. Auf dem Weg zum Eingang legt sie Brautzeitschriften zu ordentlichen Stapeln zusammen, in der Sitzecke, in der sie die Kunden empfängt, junge Frauen, die sie ängstlich ansehen, als hofften sie, dass Lady Esther nicht nur dem schönsten Tag ihres Lebens Gestalt geben wird, sondern auch den unbekannten Jahren danach. Eine Zimmereinrichtung wie im Palais von Versailles, wo sie vor dem Krieg mit ihren Eltern und
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