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Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition)
Autoren: Karsten Krepinsky
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froh darüber, dass er diese Aussicht genießen konnte. Es gab nur wenige Zimmer mit Fenster und als einer der wenigen, die überhaupt in der Kaserne schliefen, hatte er jahrelang darauf warten müssen. Fest ergriff er die Lehnen seines Sessels. Wenn nur der Schmerz nicht wäre, dachte er. Zurück am Stern lehnte er sich wieder an das Treppengeländer und horchte. Das Summen schien sich ein wenig verändert zu haben. Er stürzte die Treppe nach unten, fand jedoch keine der Türen offen vor. Ohne durch die Fenster in die Kabinen zu sehen, drückte er eine Türklinke nach der anderen nach unten. Nach einer Ewigkeit hatte er am Ende des Flurs Erfolg. Er ging in die freigewordene Kabine und setzte sich die Haube auf. Seine Hände zitterten, als er in die Digitalwelt eintauchte.
     
    Es war mitten in der Nacht, als der alte Wächter die Kabine wieder verließ. Jetzt ist es an der Zeit, in die Stadt zu fahren, dachte er. Nochmals zog er seine Schutzkleidung an und ging durch die Schleuse nach draußen. Der Vollmond stand in seiner vollen Pracht am wolkenlosen, klaren Himmel. Im Laderaum seines Schwebewagens fand er auf einer Metallkiste einen Zettel. »Heute nur eine Kiste, Bezahlung für das letzte Jahr«, stand darauf. Der Zettel stammte von dem Wächter, der in der Laderampe arbeitete. Die versprochene Belohnung war eine Goldmünze in vollendeter Prägung, die unter der Kiste lag.
     
    Diesmal fuhr er auf dem Autobahnring in Richtung Osten, bis er zu jener Straße kam, die nach Norden direkt in das Zentrum des Sperrgebiets führte. Erst nachdem er mehrere Hindernisse aus Stacheldraht aus dem Weg geräumt hatte, konnte er seine Fahrt fortsetzen. Die Wächter in den zwei Türmen, die in Sichtweite lagen, kannten seinen Wagen und ließen ihn passieren, belieferte er sie doch immer besonders gut mit Alkohol und Zigaretten. Nahezu geräuschlos bewegte sich der Wagen in geringer Höhe über dem Boden auf die Stadt zu. Er wusste, dass er nur auf den eigens für diese Technik ausgelegten Hauptstraßen fahren konnte. Im Lichtkegel der Scheinwerfer wurde das Ortsschild vor ihm sichtbar. Es war mit Einschusslöchern übersät, doch der Name der Stadt war immer noch gut lesbar. Eigentlich hatte die Alte Ordnung nach dem Krieg versucht, ihn zu ändern, doch die Menschen hatten sich geweigert und hielten am alten Namen fest. Die ersten Häuser tauchten neben der Straße auf. Er blendete das Scheinwerferlicht ab, um dem Mondlicht die Aufgabe zukommen zu lassen, die Stadt zu erleuchten. Noch war wenig von ihr zu erkennen, doch er wusste, dass es nicht allein die Nacht war, die einen tieferen Einblick verhinderte. Auch tagsüber offenbarte die Stadt ihre wahre Größe nicht beim Näherkommen, stets schien sie sich kleiner machen zu wollen, als sie wirklich war. Viele Häuser hatten Spruchbänder quer über den Fassaden hängen, die meisten davon hingen schon in Fetzen herunter. Er war wie gebannt von diesen Eindrücken. Etwas in der Stadt versuchte ihn zu locken, er konnte diesem Gefühl nicht entkommen, diesem unbändigen Verlangen, dieser Macht, die ihn anzog und ihm sagte, in die Stadt zu fahren, die Grenze von heute und gestern verschwimmen zu lassen und einzutauchen in die Welt der Alten Ordnung. Die Ordnung, in der er aufgewachsen war und in der er erzogen wurde. Die Ordnung, die ihn betrogen und ihn seiner Jugend beraubt hatte, ihn zum Mörder hatte werden lassen. Die Ordnung, die untergegangen war, die überflüssig gemacht und entsorgt wurde. Entsorgt wie er auf der Müllhalde der Geschichte in dieser Stadt. In seiner Stadt. Entsorgt die Vergangenheit, die Albträume und bösen Erinnerungen, abgestoßen in eine Stadt, zur verbotenen Zone erklärt und dem Vergessen preisgegeben.

4.
    60 Meter. Der junge Mann lag auf dem Bett eines Fremden in irgendeiner Wohnung eines Monolithbaus. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass es Zeit war aufzustehen. Sorgfältig rückte er seine Staubmaske zurecht. Gerne hätte er sich jetzt des Schutzanzugs entledigt, der ihn immer mehr einzuschnüren schien, doch letztlich widerstand er der Versuchung. Die Taschenlampe erleuchtete den fensterlosen Raum. Unmittelbar nach dem Krieg waren die Wohnungen in diesen massiven Bauten sehr beliebt gewesen. Zu jedem Zimmer gab es einen Platz unten im Schutzbunker. Nachdem die Bedrohung durch die Spaltungswaffen jedoch zur Gewohnheit wurde und somit keine Gefahr mehr von ihnen auszugehen schien, zogen viele Menschen hier aus, um den kleinen, fensterlosen
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