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Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition)
Autoren: Karsten Krepinsky
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Geschwindigkeit ausgebaut wird, dachte er, ist die Stadt in ungefähr zwei Jahren vollständig abgeriegelt. Die Arbeiten wurden in beiden Richtungen mit Hilfe von schweren Maschinen vorangetrieben und durch Wächter abgesichert. Unmittelbar angrenzend an den gerodeten Bereich war eine große Fläche mit verkohlten Baumstämmen und schwarzer Erde zu sehen. Hier hatte vor zwei Wochen ein Waldbrand gewütet, der wahrscheinlich von einem der Arbeiter ausgelöst worden war. Die breite Schneise hatte glücklicherweise ein Vordringen des Brandes in das Sperrgebiet verhindert. Die neue Grenzanlage bereitete dem alten Wächter Unbehagen, und er war froh, als er wieder den alten Grenzstreifen mit seinen maroden Wachtürmen erreichte.
     
    Die Wälder wurden Richtung Osten lichter und gaben bald Blicke in das Sperrgebiet frei. Einige wenige verfallene Häuser waren zu sehen. Als er eine breite Straße erreichte, die in die Stadt führte, verlangsamte er seine Fahrt. Die Abfahrt war mit Betonsperren versehen worden, um ein Eindringen von Fahrzeugen zu verhindern. Ein alter Mann in einem Anzug und mit einem Koffer ging geradewegs in das Sperrgebiet, ohne dass die Wächter in den Türmen eingriffen. Ältere Menschen konnten ungehindert in das Sperrgebiet einreisen, nur verlassen durften sie es nicht. Das kam jedoch ohnehin nur sehr selten vor. Die meisten von ihnen wurden von der Stadt verschluckt und kamen nicht zurück. In der Nähe einer Wiese, auf der Rehe und sogar einige Pferde standen, hielt der alte Wächter an, um sich ein wenig auszuruhen. Gerade war er im Begriff einzuschlafen, als der Schmerz kam. Es handelte sich um eine Verletzung noch aus Kriegszeiten. Der Granatsplitter war durch den linken Oberschenkel gedrungen, hatte den Knochen durchschlagen und war auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Die Wunde war nie ganz verheilt. Meistens waren die Schmerzen zu ertragen gewesen, doch manchmal brachten sie ihn zur Raserei. Er rieb sich den Oberschenkel. Aus seiner Innentasche holte er eine kleine Dose mit einem vergilbten Aufkleber heraus. »Sorglos forte« war ein starkes Schmerzmittel, das er vor langer Zeit bekam. Niemals hatte er je eine Pille davon genommen, fast ein halbes Jahrhundert lang war er der Versuchung nicht erlegen. Er trug sie immer bei sich und holte sie hervor, wenn die Schmerzen unerträglich wurden. Verdränge den Schmerz, schieb ihn zur Seite, schließ ihn ein in einen Kasten. Zersäge den Schlüssel in tausend Teile, dachte er. Der Schmerz wurde stärker. Ich habe keine Schmerzen, wenn ich es nicht will, dachte er. Und ich will es nicht.
     
    Die Schmerzen begleiteten ihn immer noch, als er Turm 45 erreicht hatte. Der Autobahnring führte nun wieder in den Wald hinein und machte dabei einen Schwenk nach Süden. Nach einer Weile lag eine große Militäranlage vor ihm. Es handelte sich um die Ostkaserne, die neben der Südkaserne die zweite wichtige Einrichtung entlang des Rings war. Hier lebten die Säuberer in großen Baracken, wenn sie von ihrer Arbeit im Sperrgebiet zurückkamen. Lange Zeit waren die Sicherungsarbeiten an der Kuppel vernachlässigt worden, bis vor einigen Jahren der alte Betonsarkophag eingestürzt war. Messungen danach hatten ergeben, dass durch den Zusammenbruch erhebliche Mengen an giftigem Staub freigesetzt worden waren. Nun sollte ein wesentlich beständigerer Sarkophag die Kuppel endgültig abdichten. Innerhalb von zwei Jahren mussten diese Arbeiten abgeschlossen sein, damit die gesamte Stadt nach der Fertigstellung der neuen Grenzanlagen für immer sich selbst überlassen werden konnte. Nur wenige Wächter waren in der Ostkaserne stationiert, um die Arbeiten der Säuberer im Sperrgebiet abzusichern. In etwas mehr als einem Jahr würde auch er für eine kurze Zeit hier arbeiten, um schließlich mit 70 Jahren in den Ruhestand zu gehen. Ein Haus mit einem kleinen Stück Land wartete in der Ostprovinz auf ihn. Dort waren die Zerstörungen nach dem Krieg zwar nicht behoben worden, doch für die alten Wächter wurde neuer Wohnraum zur Verfügung gestellt. Mit der Aussicht auf ein eigenes kleines Häuschen in der Natur war er zufrieden. Seine Fahrt führte ihn schließlich nach Westen und an Turm 89 lieferte er seine letzten Kisten aus.
     
    Es war Nachmittag geworden, als er wieder in die Südkaserne fuhr. Die Melder am Tor zeigten eine mittlere Belastung an. Durch die große Trockenheit im Sommer wurde bei Windstößen viel Staub im Sperrgebiet aufgewirbelt, der bis zum Ring
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