Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition)
Autoren: Karsten Krepinsky
Vom Netzwerk:
entgegnete der alte Mann, noch bevor sich der Schrein vollständig verdunkelt hatte.
     
    Zwei Priester hoben ihn aus dem Stuhl und setzten ihn auf eine Liege, die in einer Ecke des Raums stand. Klatschnass geschwitzt, die Hände im Gesicht, saß er da, bis er sich einigermaßen erholt hatte. Er bekam zu essen und zu trinken. Als er das Orakel wieder verließ, drückte ihm ein Priester seinen Aktenkoffer in die Hand. Der Rückweg an die Oberfläche war für ihn noch beschwerlicher als der Hinweg, denn seine Kraftreserven waren allmählich aufgebraucht. Jede Mühe, jede einzelne Schweißperle, jede Sekunde der Qual war es wert gewesen, dachte er, als er erschöpft und glücklich den Tempelbereich verließ. Seine Wohnung war nicht weit entfernt von der Tempelanlage, und er hatte eigentlich noch genügend Zeit, bevor die Nacht hereinbrach, doch er schaffte es nicht mehr, dorthin zu gelangen. Mit letzter Kraft rettete er sich auf eine Bank und bedeckte sich mit einigen Zeitungen, die in der Nähe lagen. Etwas kalt hier draußen in der Nacht, dafür gibt es keine Dämonen, dachte er, bevor der Schlaf ihn überwältigte.
     
    Am nächsten Morgen wurde er durch Schüsse geweckt. Er richtete sich auf und verstand sogleich, was geschehen war. Eine Rotte Wildschweine kam aus dem nahegelegenen Wald und lief geradewegs auf ihn zu. Ohne ihn zu beachten, flüchteten die Tiere in den Tempelbereich. Für die Jagd zeigte er jedoch keinerlei Interesse. Immer dicht an den hohen Fassaden entlang fand er den Weg zu seinem Hauseingang. »Aufgang F«, stand auf der Tür. »F«, wie der Anfangsbuchstabe seines Nachnamens. Glücklicherweise gab es diese Übereinstimmung, fiel es ihm in letzter Zeit doch schwer, sich an bestimmte Dinge zu erinnern. Vor allem sein Langzeitgedächtnis ließ ihn im Stich. Sein Erinnerungshorizont reichte lediglich einige Wochen in die Vergangenheit zurück, frühere Ereignisse waren nur noch in Bruchstücken vorhanden. Manchmal glaubte er, dass ein fremdes Wesen, eine unbändige finstere Kraft, ihm dicht auf den Fersen war und seine Erinnerungen stahl, bis nichts mehr von ihm übrig blieb und er vollständig ausgelöscht war. Das Leben im Hier und Jetzt war demzufolge sein einziger Halt und jeden Tag musste er das Wenige, was ihm verblieben war, vor dem Vergessen schützen.
     
    Das Treppensteigen war eine Qual. Die Stufen zu hoch, in Unendlichkeit hintereinander angeordnet. Eine Stufe nach der anderen, irgendwann musste am Ende das Ziel erreicht werden. Schritt für Schritt, die Belohnung würde oben warten. Er quälte sich, stützte sich mit seiner linken Hand am Geländer ab, um sein schmerzendes Bein zu entlasten und zog sich die Treppen hoch. Überall waren Schmierereien an den Wänden, und der Putz begann sich zu lösen. Kurz musste er anhalten und sich ausruhen. Er bemerkte, dass die Treppenhaustür auf diesem Stockwerk beschädigt worden war. Früher hatte es hier häufig Einbrüche gegeben, in letzter Zeit war es aber still gewesen. Das oberste Stockwerk, in dem er wohnte, war von den Diebstählen glücklicherweise nicht betroffen. Der alte Mann blickte die Stufen hinauf und ging weiter. Er hoffte, dass seine körperliche Schwäche nur von vorübergehender Erscheinung war und ihm das Treppensteigen bald wieder leichter fallen würde. Endlich in seinem Stockwerk angekommen, ging er einen schmalen Gang entlang bis zu einer Doppeltür mit der Aufschrift: »Saal 9/3«. Stühle und Tische standen wild ineinander verkeilt im Raum. Leider haben wir uns hier schon lange keinen schönen Abend mehr gemacht, dachte er. Auf der rechten Seite des Saals waren Dutzende, möglicherweise Hunderte von Kartons gestapelt. Er öffnete einen von ihnen und holte zwei Konservendosen heraus. Danach begab er sich in den hinteren Bereich des Saals, der vollständig mit Getränkekisten gefüllt war, und nahm zwei große Flaschen mit schwarzer Brause an sich.
     
    Seine Wohnung lag gleich hinter dem Saal auf der anderen Seite des Gangs. Wo früher eine Tür vorhanden gewesen sein musste, hing jetzt nur noch ein Vorhang aus schwerem Stoff. Die dafür vorgesehene Wohnungstür war ihm abhanden gekommen, an den genauen Zusammenhang konnte er sich jedoch nicht mehr erinnern. Eine massive Tür war auch nicht nötig gewesen, wohnte er doch allein in seinem Stockwerk, wahrscheinlich sogar im ganzen Haus. Begegnet war er auf jeden Fall schon lange niemandem mehr. Von Zeit zu Zeit überlegte er, in eines der unteren Stockwerke zu ziehen, um
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher