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Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition)
Autoren: Karsten Krepinsky
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und das Symbol in der Mitte der Arena bedeckte. Auf der Tribüne vor ihm saß immer noch der alte Mann. Er erhob sich und lächelte den Wächter an, als dieser an ihm vorbeiging. Ein Stromkabel diente dem Alten als Gürtel für seine zerrissene Hose. Der Wächter betrat die Arena und ging ein Stück nach links, wo die Bürokabinen einen Weg zur Mitte freigaben. Auf der Wand einer der Kabinen hatte jemand vor Jahren eine Botschaft hinterlassen: »Wir kriegen dich noch.« Unmittelbar hinter den Bürokabinen lag der Abgestürzte.
     
    Als sich der Wächter über ihn beugte, bemerkte er, dass der junge Mann den Sturz überlebt hatte. Wie ein Ritter ganz in Weiß sieht er aus, dachte er. Der junge Mann war zwar bewusstlos, schien aber bis auf einen Draht, der in seinem linken Bein steckte, keine sichtbaren Verletzungen davongetragen zu haben. Zudem verengten sich seine Pupillen, als der Wächter mit der Taschenlampe hineinleuchtete. Der Draht hatte die Schutzkleidung zerrissen, war durch den Oberschenkel gedrungen und am anderen Ende wieder ausgetreten, ohne jedoch wichtige Gefäße verletzt zu haben. Der Wächter verkürzte den Draht mit dem Messer und bog die überstehenden Enden herum. Erst im Krankenhaus sollte das Metallstück entfernt werden. Er legte sein Schallgewehr am Boden ab und hob den Oberkörper des jungen Mannes an. Dabei bemerkte er, dass etwas in der inneren Brusttasche seiner Schutzkleidung steckte. Einen Augenblick lang überlegte er nachzusehen, bevor er den jungen Mann über seine Schulter hob und die Arena über den südlichen Zugang verließ. Der Alte folgte den beiden, und obwohl er nicht richtig Schritt halten konnte und sich sehr mühen musste, blieb er dennoch in einiger Entfernung hinter ihnen.
     
    Am südlichen Eingangsportal des Hauptgebäudes angekommen, schloss der Wächter eine der großen Flügeltüren auf und betrat mit dem Jungen auf der Schulter das Freie. Umgeben von den Gebäuden des Ministeriums lag der Große Platz nun vor ihnen. Der Wächter hatte hier mit seinen Kameraden zusammen vor der Parade Aufstellung bezogen, ehe er mit ihnen nach Süden zum Triumphbogen marschiert war. Kurz nach dem Krieg war es noch ein Ort Irgendwo im Nirgendwo. Ungefähr in der Mitte des Platzes legte er den Jungen am Boden ab, um sich zu erholen. Als er sich umdrehte, sah er das Hauptgebäude vor sich. Im Himmel darüber entstand kraft seiner Vorstellung dort, wo die Vögel kreisten, eine gigantische Kuppel, die das Gebäude krönte. Nach einer Weile senkte er seine Blicke wieder und sah den Alten, der ihnen immer noch beharrlich folgte.
     
    Der Wächter nahm den Jungen erneut auf die Schulter und ging weiter, bis er an das schwere Gitter kam, das den Platz nach Süden sicherte. Er schloss das zentrale Tor auf und ging am südlichen Ministeriumsbau entlang bis zu seinem Schwebewagen. Behutsam legte er den Jungen in den Laderaum, verband seine Wunde und sicherte ihn mit einem Gurt auf einer Nottrage. Der Junge kam langsam zu sich. »Was ist passiert? Wo bin ich?«, fragte er.
    »Du bist bei mir in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut«, antwortete der Wächter. Als er sich umdrehte, sah er den Alten, der lächelnd vor dem Laderaum stand. »Hast du es also auch geschafft, alter Mann«, sagte der Wächter und half ihm beim Einsteigen. Der Alte setzte sich und hielt die Hand des Jungen. Der Wächter schloss die Türen, stieg in das Führerhaus ein und fuhr los.
     
    Als er am Steintor vorbeikam, sah er eine junge Frau in einem roten Kleid, die zwischen zwei Säulen stand und anscheinend auf jemanden wartete. Er hielt den Schwebewagen an. Sie öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben ihn. Still saß sie da und blickte nach vorne. Er umklammerte die Lenksäule seines Wagens und wurde kreidebleich. Sie sah genauso aus wie seine Frau. Immer wieder hatte er versucht, sich ihr Gesicht vorzustellen, sich ihr Aussehen in Erinnerung zu rufen, doch es war ihm nie gelungen. Das Einzige, was nach all den Jahren geblieben war, war dieses starke Gefühl für sie, diese Sehnsucht nach ihr. Jetzt, da er sie vor sich sah, erkannte er jede Einzelheit an ihr wieder, als ob er nichts von alledem jemals vergessen hatte. Fast schien es ihm so, als wäre er mit jeder einzelnen Sommersprosse vertraut. Er biss auf seine Unterlippe. Seine große Liebe, die in der Stadt bei den mörderischen Straßenschlachten in einem Kellergewölbe ums Leben kam. Vermutlich war sie sogar vergewaltigt worden wie so viele
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